Gravierende Menschenrechtsverletzungen in Moria erhöhen auch das Katastrophenrisiko

Author: Katrin Radtke and Timeela Manandhar
Date: 16. December 2020

Das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesvos ist in den vergangenen Monaten zum Katastrophen-Hotspot geworden. Nach den verheerenden Bränden im September, in deren Folge beinahe 13.000 Bewohner*innen fliehen mussten, war das provisorisch wieder aufgebauten Lager im Oktober von erheblichen Überschwemmungen betroffen. Die übrig gebliebenen rund 10.000 Bewohner*innen mussten zum Teil knietief durch das Wasser waten und viele Zeltböden bestanden nur noch aus Matsch. 

Zählt man die Corona Pandemie dazu, war das Lager in diesem Jahr gleich dreimal zum Teil zeitgleich von extremen (Natur-)Ereignissen betroffen. Und auch dass nun das neue Lager nur einen Steinwurf weit von Meer und Strand gebaut wurde, setzt die Geflüchteten erneut Gefahren aus. Wie groß das Risiko ist, zeigt das Erdbeben in der Ägäis Ende Oktober dieses Jahres, das einen Tsunami auslöste, der viele Küstenstädte überschwemmte.

Auf die besondere Vulnerabilität der Geflüchteten gegenüber extremen (Natur-)ereignissen weist auch der neue WeltRisikoBericht 2020 mit seinem Schwerpunktthema Flucht und Migration hin, den das Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) seit einigen Jahren gemeinsam mit dem Bündnis Entwicklung Hilft herausgibt . Der im Bericht enthaltene WeltRisikoIndex beruht auf dem Verständnis, „dass das Katastrophenrisiko nicht allein durch das Auftreten, die Intensität und die Dauer extremer Naturereignisse bestimmt wird“. Vielmehr sind auch „soziale Faktoren, politische Bedingungen und wirtschaftliche Strukturen dafür verantwortlich, ob sich eine Katastrophe infolge extremer Naturereignisse ereignet oder nicht“. 

Obwohl im Index Nationalstaaten im Vordergrund der Analyse stehen, lässt sich die Formel des Index (Risiko = Gefährdung x Vulnerabilität) auch auf Moria übertragen: zahlreiche Faktoren wie etwa der bereits erwähnte unsichere Standort, die nur provisorisch errichteten Unterkünfte, der enge Raum, auf dem die Geflüchteten zusammenleben, die unzureichende Versorgung mit sauberem Wasser, Nahrungsmitteln, Hygieneartikeln (auch Masken) und die unzureichende medizinische Betreuung erhöhen das Risiko der Geflüchteten ganz erheblich. 

Der WeltRisikoBericht geht davon aus, „dass jede Gesellschaft in der Lage ist, direkt oder indirekt Vorkehrungen zu treffen, um die Auswirkungen von Naturereignissen zu reduzieren.“ Das gilt natürlich auch und besonders für Griechenland und Europa. Denn anders als die Länder aus Katastrophenhotspots wie Subsahara Afrika, Süd- und Südost Asien und Ozeanien trägt Europa im Vergleich der Kontinente das geringste Katastrophenrisiko und hat die geringste Vulnerabilität. Griechenland hat zwar insgesamt immerhin ein mittleres Katastrophenrisiko und hat sich gerade im Bereich der Bewältigungskapazitäten in den letzten Jahren verschlechtert, doch sind seine Kapazitäten im weltweiten Vergleich hoch. Was in Moria also erschreckend deutlich zu Tage tritt, ist, dass diese Vulnerabilität politisch gewollt ist. Moria mit seinen unwürdigen Lebensbedingungen und wiederkehrenden Katastrophen soll abschrecken.

Aus rechtlicher Perspektive stellen die Umstände, unter denen die Geflüchteten in Moria leben, eklatante Menschenrechtsverletzungen dar. Griechenland trägt die Verantwortung zum Schutz der Menschen und ihrer Menschenrechte in Moria. Auch die Europäische Union kann sich dieser Verantwortung nicht einfach entziehen, indem sie die EU-Länder an den Außengrenzen bei der Umsetzung einer gescheiterten Einwanderungspolitik alleine lässt. Die im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie Konventionen zum Schutz von Geflüchteten verankerten sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte verbieten es, Geflüchtete in unmenschlichen Lebensbedingungen ohne ausreichend Zugang zu Wasser, Nahrung und medizinischer Versorgung unterzubringen. Staaten, die das Abkommen unterzeichnet haben, „verpflichte[n] sich, einzeln und durch internationale Hilfe und Zusammenarbeit, (…) unter Ausschöpfung aller [ihrer] Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln (…) die volle Verwirklichung“ der anerkannten Rechte zu erreichen“ (Art. 2 IPwskR). 

In Moria wird auf eklatante Weise sichtbar, wie unwillig die Regierungen Griechenlands und anderer europäischer Staaten sowie die EU-Institutionen sind, ihrer Pflicht und Verantwortung gerecht zu werden, die Menschenrechte von Geflüchteten zu respektieren und zu schützen. Moria wird damit nicht nur zum Sinnbild der Vulnerabilität von Geflüchteten, sondern auch zu jenem Ort, an dem Menschenrechtsverletzungen in der Europäischen Union am deutlichsten zu Tage treten. Die Verletzung insbesondere der wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte führt faktisch zu einer erhöhten Vulnerabilität gegenüber Pandemien und extremen Naturereignissen und zu einem steigenden Katastrophenrisiko; dies führt wiederum bei unzureichenden Schutzmaßnahmen zu weiteren Menschenrechtsverletzungen – eine Abwärtsspirale, die es zu unterbrechen gilt.

Humanitäre Organisationen sollten erwägen – jenseits der klassischen humanitären Hilfe – verstärkt humanitäre Advocacyarbeit im Sinne des Schutzes Geflüchteter zu leisten und ihre Stimmen noch lauter zu erheben. Das internationale und europäische Menschenrechtssystem bietet Migrant*innen einen juristischen Anhaltspunkt, um gegen globale Ungerechtigkeiten vorzugehen. Auf dieser Basis haben Vertriebene nicht nur Ansprüche gegenüber ihrem Heimatstaat, sondern auch gegenüber ihrem Gaststaat. Humanitäre Organisationen müssen sie dabei unterstützen. Aufgrund der derzeitigen Rahmenbedingungen ist die Unterstützung von Einzelfall-Klagen durch alle Instanzen aus rechtlicher Perspektive ein guter Weg Druck aufzubauen, der bereits von Menschenrechtsorganisationen gegangen wird. Darüber hinaus sollte die europäische Asylpolitik auch von humanitären Organisationen immer wieder mit Bezug zu den sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechten in Frage gestellt werden. Humanitäre Organisationen müssen dabei wie so oft die humanitären Prinzipien gegeneinander abwägen und im Sinne der Humanität kontextbezogen entscheiden, ob das Prinzip der Neutralität in diesem Fall zunehmend geopfert werden kann: Moria ist nicht Syrien oder Afghanistan.

Katrin Radtke is senior researcher and lecturer at the Institute for Law of Peace and Armed Conflict (IFHV) at the Ruhr-University Bochum (RUB) and scientific director of the academy for humanitarian action (aha).

Timeela Manandhar is a Research Assistant at the Institute for International Law of Peace and Armed Conflict (IFHV) and at the Institute of Development Research and Development Policy (IEE) of the Ruhr-University Bochum. She has a Diploma in Law with her research focusing on human rights law, law and development and public international law. Currently, she is writing her PhD thesis in the field of Business and Human Rights. 

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