#COVID-19 und seine Auswirkungen auf die Migration

Autor*in: Kristin Bergtora Sandvik und Adele Garnier
Datum: 31. März 2020

Wie wird die #Covid19-Pandemie globale Migrationsfragen und den Umgang mit Geflüchteten verändern?

Erste Beobachtungen von Kristin Bergtora Sandvik und Adele Garnier.

Zusammenfassung: Die Notfallmaßnahmen der Covid-19-Pandemie gestalten den Umgang mit Geflüchteten und globalen Migrationsfragen neu. Die Autorinnen des Blogbeitrags stellen dies anhand von Marginalisierung, „legal distancing“ und der Vieldeutigkeit des Fürsorgebegriffs dar.

Einleitung

Fast drei Monate nach dem Ausbruch von Covid-19 werden die Auswirkungen sichtbar: Die Pandemie wird Fragen der internationalen Migration und der Zwangsvertreibung neu gestalten. Dieser Beitrag liefert einige erste Überlegungen zu den direkten und indirekten Folgen und möglichen Verläufen nach der Pandemie. Die geografischen Beispiele sind selektiv, aber wir hoffen, dass sie anschaulich sind. Die Notfallmaßnahmen schwanken zwischen Fürsorge für die einheimische Bevölkerung einerseits und Kontrolle von Migrationsbewegungen und -interaktionen andererseits. Es ist abzusehen, dass die Verbreitung und Routinisierung außergewöhnlicher Praktiken langfristige Auswirkungen haben werden.

Direkte Auswirkungen

Verschärfende Marginalisierung durch Einpferchen, Abriegelung und De-facto-Abschiebungen

Diejenigen, die sich bereits in einer prekären Lage befinden, werden durch die Isolation von der übrigen Bevölkerung weiter marginalisiert. Zum Schutz des Gesundheitswesens werden Migrant*innen in engen und überfüllten Räumen ohne angemessene Gesundheitsversorgung eingepfercht. Die griechische Regierung hat als Teil ihrer Covid-19-Notfallmaßnahmen eine Ausgangssperre für die Bewohner*innen des überfüllten Lagers Moria auf der Insel Lesbos verhängt. Wie hinlänglich bekannt ist, sind die Lager auf den griechischen Inseln für weitaus weniger Menschen konzipiert worden und die dortige Gesundheitsversorgung bereits jetzt unzureichend. In Australien haben sich die Besorgnisse verschärft, als eine Wache in einer Haftanstalt für Geflüchtete positiv auf das Virus getestet wurde. Es gibt zwar Fälle, in denen Gefängnisse im Zuge der Corona-Pandemie ihre Insassen mit geringem Risikopotenzial freiließen, aber wir konnten keine Beispiele für die Entlassung von Migrant*innen aus Haftanstalten ausfindig machen. Regierungen haben auch aktive Schritte unternommen, um mittellose Migrant*innen physisch aus ihrem Staatsgebiet zu entfernen. In Norwegen flog die Stadtverwaltung von Oslo kürzlich 140 Personen der Roma-Minderheit in ihre Heimat nach Rumänien zurück. Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung können ebenfalls ausgewiesen werden.

Die Vieldeutigkeit des Begriffs Fürsorge

Es gibt auch Meldungen über die Aussetzung von Abschiebungen und eine bessere Gesundheitsversorgung für Migrant*innen. Mehrere Länder, darunter Kanada, Deutschland und die USA, sehen vorerst von weiteren Abschiebungen ab. Die Gründe dafür sind jedoch nicht humanitärer Natur, sondern eher in den weitreichenden Reiseverboten und der Gesundheitsgefährdung des Personals der Einwanderungsbehörden begründet. Das langfristige Schicksal der Abgeschobenen bleibt dabei unbekannt. Während einige aus humanitären Gründen bleiben dürfen, werden viele von ihnen wieder in Haftanstalten mit dem gleichen Ansteckungsrisiko und einer mangelnden Gesundheitsversorgung gesteckt, wie zuvor geschildert wurde. Gleichzeitig wird Covid-19 als eine Gelegenheit genutzt, um sich gegen Abschiebungen zu wehren, wie die Entscheidung Guatemalas hinsichtlich US-amerikanischer Abschiebungen zeigt. Ein weiterer Nebeneffekt einer intensiveren Untersuchung ist die Ausweitung der Gesundheitsversorgung für Zugezogene in den beiden kanadischen Provinzen Ontario und British Columbia. Von dieser Maßnahme profitieren nicht nur Neuankömmlinge, die dort in der Regel während der ersten drei Monate von der allgemeinen Gesundheitsversorgung ausgeschlossen sind, sondern weite Teile der Bevölkerung.

Covid-19 verursacht weitreichende Schließungen von Programmen. Der schwerwiegendste Angriff auf das bestehende Schutzsystem für Geflüchtete ist die Aussetzung der internationalen Härtefallaufnahmen (Resettlement). Sowohl UNHCR als auch IOM erklären, sie “sehen hoffnungsvoll in die nahe Zukunft, wenn das Programm wieder voll aufgenommen wird – sobald es Logistik und Umsicht erlauben“. Bis dahin werden keine Geflüchtete umgesiedelt, selbst wenn ein Staat bereit wäre sie aufzunehmen. Derweil sind gar Äußerungen über einen vermeintlichen “Tod des Resettlements” zu vernehmen. Trotz der auf dem Global Refugee Forum gemachten Zusagen und Versprechen mehr Menschen umzusiedeln, beobachten wir folgende Entwicklungen: einen starken Rückgang des Resettlements in die USA; den Widerwillen der Europäischen Union (EU) und ihrer Mitgliedstaaten, die von Griechenland und Italien aufgenommenen Geflüchteten in andere EU-Länder umzuverteilen; und das zunehmende Outsourcing von Resettlement durch sogenannte Emergency Transit Mechanism (ETM), die von Ruanda und Niger aus betrieben werden. Das Resettlement-Konzept steht damit vor der Herausforderung, sein auf dem UN Summit for Refugees and Migrants 2016 antizipiertes Comeback anzutreten.

Die Rechtsstaatlichkeit in der Zentrifuge

Ein weiteres Thema von großer Bedeutung ist das „legal distancing“ durch die Schließung vieler Gerichte, was die Marginalisierung und Ausgrenzung von Migrant*innen weiter verstärkt. Dies geschieht in gegensätzlichen Geschwindigkeitszyklen: große Eile bei der Schaffung neuer behördlicher Vorschriften einerseits und eine institutionelle Verlangsamung der ordnungsgemäßen Gerichtsverfahren und bürokratischer Prozesse andererseits.

Gegenwärtig führen die USA eine zunehmende Zahl von Beschränkungen ein, die willkürlich angenommen werden, indem Gerichte geschlossen und Anhörungen verschoben werden. In Italien wird die Zahl der Asylverfahren drastisch reduziert, da jeweils nur eine Person zur gleichen Zeit das Büro betreten darf. Viele Länder weisen nun einfach Menschen an der Grenze ab und akzeptieren keine Visa- oder Asylanträge. Dies könnte zur Folge haben, dass eine zunehmende Zahl an Beschränkungen (zusammen mit anderen nur kurzzeitig ausgesetzten Verfahren) in permanente Einschränkungen umgewandelt und für eine breite Palette von Migrationsfragen und administrativen Prozessen angewandt werden.

Indirekte Auswirkungen

Auch die zahlreichen Notstandsgesetze, die gerade in Windeseile durch die Parlamente gebracht werden und Regierungen erlauben per Dekret zu regieren oder die Menschenrechte zu bedrohen werden indirekte Konsequenzen haben. Die neuen Gesetze können zu einem allgemeinen demokratischen Backlash mit direkten politischen und behördlichen Auswirkungen auf den Migrationskontext führen. Eine Gefahr weitreichender Ermessensbefugnis besteht darin, dass der Interpretationsspielraum den exekutiven Organen überlassen wird, die nur einer begrenzten rechtlichen Aufsicht unterliegen und gegen die keine Rechtsbehelfe eingelegt werden können. Möglicherweise legen diese Organe die Regeln willkürlich aus und entscheiden so von Fall zu Fall unterschiedlich. Bürokratisches Ermessen würde somit auch wenig oder keiner Kontrolle unterliegen. Während Unterfinanzierung, Kapazitätsdefizite, Kompromisslosigkeit und andere Dysfunktionen bekannte Herausforderungen für Einwanderungsbehörden sind, werden die negativen Auswirkungen auf Geflüchtete und Asylsuchende zunehmen. Darüber hinaus können viele der bereits geltenden Gesetze schwerwiegende Folgewirkungen haben. Im Laufe der Zeit werden sich solche Beispiele wahrscheinlich vervielfachen, und es ist wichtig, dass sie erfasst und analysiert werden.

Verborgene Zusammenhänge entwirren und vorankommen

Migration als entscheidender Bestandteil der globalen Regierungsführung war in den letzten Jahren viel von Sorgen um Rechtsextremismus, Populismus und den Rückgang der Solidarität geprägt. Die ersten Reaktionen auf die Covid-19-Pandemie haben nun offenbar genau diese politische Agenda rasch vorangetrieben.

Viele der oben beschriebenen Entwicklungen sind den Expert*innen der internationalen Migrationspolitik gut bekannt. Während der Ebola-Ausbruch 2014 eine sehr deutliche Nord-Süd-Dimension hinsichtlich des Othering veranschaulichte, und die Anfangsphase des Covid-19-Ausbruchs durch eine Fokussierung auf China gekennzeichnet war, Trump beispielsweise bestand darauf, dies als “China-Virus” zu bezeichnen, zeichnet die rasche globale Ausbreitung des Virus nun bestehende Muster struktureller Ungleichheit ab. Aus wissenschaftlicher Sicht sind angesichts dieser komplexen Schnittstellen sorgfältige und trennscharfe Analysen notwendig, die wir in den folgenden drei Beobachtungen abschließend darstellen:

1. Die erste Beobachtung bezieht sich darauf, was die “Biosicherheit” im Migrationskontext auslösen wird, und wie die Biosicherheitslogik mit nationalen Sicherheitsinteressen verschmelzen und auf Migrationsfragen übertragen werden wird. Offene Grenzen werden bereits jetzt wieder als Bedrohungsobjekte betrachtet. Die Schließung von Grenzen (einschließlich der Grenzen innerhalb von Bundesstaaten, wie z.B. in Australien) erfolgt im Sinne der “Abflachung der Kurve” (um letztendlich “Leben zu retten”) und damit zum Schutz der lokalen wie auch der globalen Bevölkerung beizutragen. Mehrfache Grenzschließungen werden als “biologische Notwendigkeit” angesehen und die Rechtfertigungen für diese Schließungen wie auch ihre hohen Zustimmungswerte bedürfen hoher Wachsamkeit.

2. Die zweite Beobachtung betrifft neu aufkommende Überschneidungen politischer Logiken: Ein weit verbreiteter positiver Aspekt von Covid-19 ist die Verbesserung der Luftqualität und der Verringerung des Verschmutzungsgrades, sowie der Zusammenbruch der Industrie und des Flugverkehrs. Andere berichten von einer Renaissance des Gemeinschaftssinn in der Nachbarschaft aufgrund des Rückgangs des “Raubtiertourismus“. Es ist wichtig zu untersuchen, inwieweit dies mit Forderungen nach einer Verringerung der internationalen Migration oder bestimmter Arten von Migration verbunden ist.

3. Die dritte Beobachtung weist auf eine eventuelle globale Rezession oder zumindest auf die Aussicht auf eine steigende Arbeitslosigkeit und erhebliche Neu-Priorisierungen in den Inlandshaushalten im globalen Norden hin. Dies geht einher mit der anhaltenden Untätigkeit vieler wohlhabender Regierungen des Globalen Ostens, die noch immer zu wenig für den Schutz von Geflüchteten tun. Global gesehen haben  zwar einzelne Staaten eine beträchtliche Ausweitung von temporären wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen angekündigt. Bisher waren die Aktivitäten in punkto internationaler Zusammenarbeit jedoch nicht sehr weitreichend, ebenso wie es an Überlegungen bezüglich der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die internationale Solidarität mangelt.


Dieser Blogbeitrag wurde von Dr. Kristin Bergtora Sandvik, Professorin im Fachbereich Kriminologie und Rechtssoziologie der Universität Oslo und Professorin für humanitäre Studien am Peace Research Institute Oslo (PRIO) und Dr. Adele Garnier, Professorin im Fachbereich Moderne Geschichte, Politik und internationale Beziehungen an der Macquarie-Universität (Australien) verfasst und vom CHA ins Deutsche übersetzt.