Autor*in: | Ralf Südhoff |
Datum: | 7. April 2020 |
Das Auswärtige Amt erreicht inmitten der globalen Corona-Krise ein rundes Jubiläum. Doch nicht nur die Pandemie zeigt: Es gibt wenig Grund zum Feiern.
Selten war internationale Politik so omnipräsent wie in diesen Zeiten: Ob Migrationspolitik oder Klimawandel, Brexit oder nun die Corona-Pandemie mit ihren extremen europäischen und globalen Herausforderungen – für deutsche Außenpolitiker*innen sind eigentlich Hochzeiten. Selbige erwartet dieser Tage zudem ein rundes Jubiläum: Das Auswärtige Amt (AA) begeht just dieser Tage seinen 150. Geburtstag. Ein Grund zum Feiern?
COVID-19: eine außenpolitische Mammutaufgabe
Grenzschließungen in Europa und EU-Video-Konferenzen im Akkord, virtuelle G7-Gipfel und eine globale Gemeinschaftsherausforderung, wie es sie in dieser akuten Dringlichkeit wohl selten gab – die Corona-Pandemie ist eine außenpolitische Mammutaufgabe. Zugleich sieht sich die Berliner Außenpolitik heute als Vermittler, als ein von Werten und humanitären Prinzipien statt Interessen geleiteter Global Player, als ehrlicher Makler von „Werten und Verantwortungsbewusstsein“, und Verteidiger eines regelbasierten, multilateralen Zusammenlebens. Misst man Berlin jedoch an den eigenen Maßstäben, wird nicht nur in COVID-19 Tagen deutlich, wie weit es oft noch davon entfernt ist, sie mit Leben und Substanz zu füllen.
Dies zeigt sich derzeit an einem Außenminister Maas, der in all den außenpolitischen Corona-Herausforderungen – deren ultimative Horrorszenarien nun in Flüchtlingscamps in Griechenland, in Syrien oder unter den über 1 Milliarde Slumbewohnern weltweit drohen – vorrangig ein Thema setzt: Rückholaktionen für Deutsche.
Gleichzeitig verfügen Hilfsorganisationen jetzt schon Einstellungsstopps in Erwartung eines dramatischen Spendeneinbruchs, und COVID-19 könnte eine globale Krise werden, in der einmal mehr die Ärmsten der Armen vergessen und der derzeit gern beschworene neue Gemeinsinn ein Humanismus unter Wohlhabenden bleiben könnte – außer wir steuern schnell und substantiell gegen. Die Herausforderungen für das Auswärtige Amt, seine humanitären Aufgaben und seine Chancen zu führen, könnten also kaum spannender sein als in diesen ungewöhnlichen Zeiten. Und doch scheinen es Zeiten, in denen abermals eine beachtliche Diskrepanz zwischen einem großen finanziellen und selten strategischem Engagement deutscher Außenpolitik deutlich wird.
In der Tradition der Scheckbuchdiplomatie?
Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher hatte einst das gern als deutsche „Scheckbuchdiplomatie“ belächelte deutsche Engagement personifiziert, das spiegelte, dass die damalige Bundesrepublik sich aus historischen Gründen zwar finanziell, aber fast nie darüber hinaus engagieren wollte. Heute haben Kritiker*innen den Eindruck, dass Deutschland ein Engagement über finanzielle Fragen hinaus gerne vorgibt, es aber schlicht nicht kann. Als bestes Beispiel kann hierfür ein Feld dienen, worauf das Amt besonders stolz ist und das eine noch vielfach missachtete Relevanz in der Pandemie hat: das deutsche humanitäre Engagement.
Deutschlands humanitäre Hilfe hat sich in den letzten zehn Jahren versechzehnfacht, allein seit 2015 stiegen die Mittel um mehr als 400% an. Berlin ist mit rund 1,5 Mrd. Euro heute der zweitgrößte humanitäre Geber weltweit. Dies hat international große Erwartungen und Hoffnungen geweckt über Berlins künftigen Einfluß auf Großkrisen, ihre überregionalen Auswirkungen und auf Fragen, die für die heutige Rekordzahl von Menschen in Not oft Fragen sind auf Leben und Tod.
Denn zugleich ist die vermeintlich unstrittige humanitäre Hilfe und ihr wertebasierter Kern, bedingungslose, neutrale Hilfe für Menschen nach dem Maß der größten Not zu leisten, heute so gefährdet wie seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Eine werteorientierte deutsche Außenpolitik wäre daher allein schon elementar, um die Basisregel eines humanen Zusammenlebens zu wahren: Das Leben eines jeden Menschen ist zu schützen, ohne Ansicht der Person, ihres Geschlechts und ihres Glaubens, ihrer Herkunft und ihrer Identität.
Dass selbst dieses humanitäre Prinzip immer weniger gilt, liegt längst nicht mehr nur an den Eliten in Damaskus und Moskau, in Riad und Teheran. Längst untergraben auch die Regierungen in Washington, in Brüssel und Paris, in Rom und Athen diesen vermeintlich unumstößlichen Grundsatz. Experten sprechen von einem „Shrinking Humanitarian Space“ selbst im Herzen Europas:
Fast achselzuckend wurde schon 2019 zur Kenntnis genommen, wie Washington seine humanitäre Hilfe entweder aus politischen Gründen instrumentalisierte (Venezuela) oder selbst Kindern an der mexikanischen Grenze schlicht verweigerte. Nur einen kurzen Aufschrei gab es dem folgend, als die EU erst beschloss die Seenotrettung im Mittelmeer einzustellen und ertrinkenden Menschen aus migrationspolitischen Gründen jede Hilfe zu verweigern, um dann die einspringenden zivilen Helfer*innen und Schiffe zu kriminalisieren. Und nun Griechenland: Erst ließ die EU aus politischen Gründen die völlig überfüllten Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln offenbar bewusst im Chaos versinken, sodass manch hart gesottene Helfer*innen von den schlimmsten Lagern der Welt sprechen. Nun setzt Athen gar das Grundrecht auf Asyl aus, um jede Hilfe an seinen Grenzen verweigern zu können – mit dem expliziten Einverständnis der EU.
Und Berlin? Verspricht ein paar minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen. Stellt wieder ein paar Millionen zur Verfügung. Betont, wie es sich bemüht, für eine humane Politik zu werben.
Mit Blick auf die großen Krisen: keinerlei Fortschritt
Unterstellen wir zurecht die lautersten Motive in den humanitären Abteilungen des AA: An welchen Strukturen und Interessen liegt es, wenn das mächtige Berlin nicht Athen veranlassen kann, Toilettenhäuschen für Flüchtlinge aufzustellen? Oder wenn der deutsche UN-Botschafter nach einem Jahr Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat bilanziert: „Mit Blick auf die großen Krisen haben wir keinerlei Fortschritte erreicht.“
Einerseits liegt so manches an externen Faktoren, etwa im UN-Sicherheitsrat an seinen Vetomächten. Andererseits liegt vieles an einem systematischen Mangel an strategischem Know how und personellen Kapazitäten der deutschen Außenpolitik selbst. Als im UN-Sicherheitsrat etwa entscheidende Verhandlungen über die Syrienkrise begannen, war der einzig kompetente deutsche Diplomat im wohl verdienten Urlaub. Ein Dilemma, das weit über die Anekdote hinausreicht: Das Amt hat insgesamt heute fast doppelt so viele Mittel zur Verfügung wie noch vor zehn Jahren. Gleichzeitig ist sein weltweites Personal um weniger als zehn Prozent gewachsen. Seine wichtige Personalreserve für Kriseneinsätze liegt bis heute statt bei den benötigten 8% bei nur 1,7% der Mitarbeiter.
Just die humanitäre Hilfe kann erneut als deutlichstes Beispiel für die Folgen dienen: Für selbige sind bis heute 73 Personen im gesamten Ministerium zuständig, nicht mal 1% des Personals steuert folglich rund 25% des Budgets. Andere Geber investieren laut internen Berechnungen des Ministeriums doppelt (Großbritannien), dreimal (USA), achtmal (EU) oder gar zehnmal (Schweiz) so viel Personal in jeden Euro Hilfe, den sie vergeben. Eine Folge: Der Bundesrechnungshof hat festgestellt, das Ministerium habe in den letzten Jahren fast 2,5 Mrd. Euro des Gesamtbudgets ohne hinreichende Prüfung verausgabt. Nun soll ein neues Bundesamt das Problem lösen.
Hinzu kommt: Kaum ein Land ist heute noch so zentralistisch aufgestellt wie der deutsche diplomatische Dienst, trotz 227 Auslandsvertretungen in aller Welt. Selbst Staatsminister Annen wirft intern selbstkritisch die Frage auf: „Wie können wir unsere Auslandsvertretungen besser einbeziehen in die Entscheidungen hier in Berlin in der Zentrale?“ Erneut ist in der humanitären Hilfe das Dilemma auf die Spitze getrieben: Andere Geber treffen längst wichtige Entscheidungen nicht nur in der Hauptstadt, sondern dezentral durch ihre langjährig erfahrenen humanitären Experten vor Ort in Nairobi, Beirut oder Bamako. Und Deutschland? Im Rahmen einer parlamentarischen Anfrage konnte das Amt keinen einzigen Experten in einer Botschaft benennen, der sich auf die Großkrisen vor Ort konzentrieren darf und soll.
Dank des personellen Rotationsprinzips fangen zudem alle Mitarbeitenden im Schnitt alle drei Jahre in einem neuen Themenfeld von vorne an. Auch die hieraus mangelnden Netzwerke und Expertisen vor Ort tragen dazu bei, wenn ein pointiertes Engagement wie in der Libyen-Krise dann alsbald verpufft. Ein antiquiertes Know-how- und Wissensmanagement tut sein Übriges:
Während das Amt gerade in seiner neuen humanitären Strategie vorangeht, die Chancen von Innovation und Digitalisierung betont und Innovationslabs mit hippen Slogans wie „Failing forward“ finanziert, lebt es weiter in der Welt der Akten. Selbst ein heute in jedem kleinen Start-up übliches Teilen und paralleles Bearbeiten von Dokumenten auf „Sharepoints“ ist in einem Haus mit fast 7500 Mitarbeiter*innen weiter in der Pilotphase.
Doch es geht nicht nur um Management, sondern auch um Interessen und Strukturen, im Haus und darüber hinaus: Vertreter des Amtes bekennen sich zu widersprüchlichen Interessen im Ministerium oder gar innerhalb einer Abteilung. Für die humanitäre Hilfe des AA ist beispielsweise die „Abteilung S“ zuständig, S wie „Stabilisierung“. Die deutsche Stabilisierungspolitik folgt jedoch qua eigener Leitlinie weniger humanitären Werten als Interessen, denn sie „konzentriert sich vor allem auf die Krisen und Konflikte, die deutsche und europäische Sicherheitsinteressen besonders betreffen“.
Beispiel Sahel: Für das Auswärtige Amt ist ein Land wie die Migrationsdrehscheibe Mali ein Paradebeispiel, wie „Diplomatie, Bundeswehr- und Polizeieinsätze (…) sowie die Projekte zur Stabilisierung und nachhaltigen Entwicklung einem gemeinsamen Ziel dienen“. Wer vor Ort mit humanitären Helfer*innen spricht, wird vielfach das Gegenteil hören: Die Vermischung des internationalen Engagements mit migrationspolitischen, militärischen, sicherheitspolitischen Interessen des Westens im Kampf gegen den Islamischen Staat gefährde gerade ihre Arbeit und die Sicherheit ihrer Mitarbeiter*innen, die auf ihrer Unparteilichkeit und Neutralität fußt. Zudem bemängeln Institutionen wie das Kieler Institut für Sicherheitspolitik, die nötige Fachexpertise entstehe erst im AA für die „Beeinflussung von Konfliktdynamiken“ durch Stabilisierungspolitik, die „oft noch ein unbekanntes, vielleicht auch unbequemes Terrain“ sei.
Plädoyer für eine werteorientierte deutsche Außenpolitik
Derweil wäre ein in sich einiges, durchsetzungsfähiges Außenamt innerhalb der Bundesregierung auch in Post-Corona-Zeiten von überragender Bedeutung, sind doch ohnehin die Rollenverteilungen zwischen AA, Kanzleramt, Verteidungs-, Wirtschafts- und Entwicklungsministerium (BMZ) vielfach widersprüchlich und Konflikte zwischen Verteidigungs- und Außenminister werden mittlerweile sogar öffentlich ausgetragen. Ganz zu schweigen von den Folgen deutscher Vorlieben für Regularien und strikte Regelauslegungen: Kooperationsfortschritte etwa zwischen BMZ und AA werden durch gegensätzliche Vorgaben des Finanzministeriums zunichte gemacht. Auf den Ruf nach mehr Koordination folgt hier das Echo, auf deutsches Budgetrecht zu pochen und eine strikte Trennung der Aufgaben einzufordern sowie für Hilfe im Kampf gegen Corona oder im Bombenhagel von Syrien die selben Transparenz-Maßstäbe anzulegen wie für einen Kindergartenbau in München-Pasing.
Wer entscheidet letztlich über Deutschlands internationales Engagement, das vielerorts erhofft und teils gefürchtet wird? Ausländische Beobachter*innen werfen vielfach die Frage auf, ob nicht auch Deutschland wenigstens einen nationalen Sicherheitsrat brauche, in dem die Regierungspolitik koordiniert wird. Denn wer entscheidet über sehr konkrete Fragen, wenn es gilt, Werte gegen Interessen zu verteidigen? Wenn es gilt zu entscheiden, ob bei Waffenexporten in den Jemen-Krieg das millionenfache Leiden vor Ort oder deutsche Werften in Wolgast mehr zählen? Wenn es gilt, im Kampf gegen Corona Rettungsschirme für die Ärmsten der Armen aufzustellen und nicht nur für die notleidende einheimische Wirtschaft? Wer verteidigt hier elementare humanitäre Prioritäten und setzt sie auch durch?
In Berlin, in Europa und vor allem in den Großkrisen der Welt wäre eine werteorientierte deutsche Außenpolitik und ein Amt, das strategisch, personell, kulturell seiner Rolle im 21. Jahrhundert gerecht wird, heute also wichtiger denn je. Wie weit dieser Weg aber allein mit Blick auf grundlegende interne Fragen des Ministeriums ist, hat Staatsminister Annen jüngst benannt – es gehe darum nach 150 Jahren ein Amt zu schaffen, in dem gelte: „Teamgeist statt Obrigkeitsdenken, Kollegialität statt Herrschaftswissen und Feminismus statt Patriarchiat“.
Eine Kurzfassung dieses Blogs ist am 4. April 2020 als Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung erschienen.
Ralf Südhoff ist Direktor des Centre for Humanitarian Action (CHA). Zuvor arbeitete er u.a. 12 Jahre für die UN, für die er zuletzt das Regionalbüro zur Syrienkrise des UN World Food Programme in Jordanien leitete, sowie als Referent der damaligen Parl. Staatssekretärin im BMZ, Uschi Eid.
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