Humanitarian Smugglers? Zur EU-Schleusungs-Beihilfe-Richtlinie und der Kriminalisierung der Zivilgesellschaft

Autor*in: Laura Schack
Datum: 3. August 2020

Einleitung

Humanitäre Akteur*innen, die Flüchtenden und Migrant*innen in Europa helfen, sahen sich in den letzten Jahren wiederholt mit Anschuldigungen und Anklagen des Menschenschmuggels konfrontiert. Die Verhaftung von Carola Rackete, der Kapitänin der Sea Watch im Jahr 2019, ist vielleicht das bekannteste Beispiel, aber es ist nur eines von vielen. So wurden beispielsweise mindestens neun freiwillige Helfer*innen, die in Griechenland Such- und Rettungsaktionen auf der Insel Lesbos durchführten, festgenommen und wegen Menschenschmuggels angeklagt, davon fünf im Jahr 2016 und vier im Jahr 2018. In Dänemark wurden 2016 fast 300 Personen strafrechtlich verfolgt und zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie Flüchtenden auf der Durchreise geholfen haben. Während die Besatzung sich weiterhin mit Anklagen wegen Menschenschmuggels konfrontiert sieht (was mit über 20 Jahren Gefängnis geahndet werden kann), wurde 2017 die Iuventa, das Such- und Rettungsschiff der NGO Jugend Rettet, in Italien beschlagnahmt.

Die Anklagen gegen diese humanitären Akteur*innen basieren auf der Schleusungs-Beihilfe-Richtlinie (2002/90/EG), dem europäischen Rechtsrahmen zur Bekämpfung von Menschenschmuggel. Dies ist auf die unklare Formulierung der Richtlinie zurückzuführen, die von der UN-Definition des „Schleusens“ abweicht und nur eine fakultative humanitäre Ausnahmeregelung enthält, den europäischen Behörden aber viel Raum lässt, um Menschen und Organisationen, die Flüchtende und Migrant*innen unterstützen, ins Visier zu nehmen. Angesichts des abnehmenden Handlungsspielraums für die migrantenfreundliche Zivilgesellschaft, würde eine Überarbeitung der Vermittlerrichtlinie eine entscheidende wesentliche Botschaft aussenden.

Die Schleusungs-Beihilfe-Richtlinie

Die 2002 verabschiedete EU-Schleusungs-Beihilfe-Richtlinie wurde zur Bekämpfung der Schleusung von Migrant*innen , d.h. Unterstützung von Migrant*innen bei der illegalen Einreise oder dem illegalen Aufenthalt in einem Land im Austausch für finanzielle oder materielle Vorteile, eingeführt. Die Direktive enthält Richtlinien zur Unterstützung der illegalen Einreise, des Transits, des Aufenthalts und des Wohnsitzes von irregulären Migrant*innen in den EU-Mitgliedstaaten. Während die Richtlinie vorgeblich zur Verfolgung von Schleuser*innen verwendet wird, wird sie aufgrund von zwei Hauptpunkten auch systematisch zur Verfolgung von humanitären und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen aus der EU eingesetzt.

Erstens verlangt die Richtlinie im Gegensatz zu dem, was im UN-Protokoll gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg festgelegt wurde, nicht das Vorliegen der Motivation des materiellen Nutzens, damit eine Handlung als Schleusung gilt (der materielle Nutzen umfasst jede Art von finanziellen oder nicht-finanziellen Anreizen oder Zahlungen). Dieses Versäumnis in der Schleusungs-Beihilfe-Richtlinie ist auffällig: Während die Richtlinie den materiellen Nutzen als Voraussetzung für die strafrechtliche Verfolgung derjenigen nennt, die den Aufenthalt und Wohnsitz irregulärer Migrant*innen in den Mitgliedstaaten ermöglichen, gibt es in dem Artikel über die Einreiseerleichterung keine solche Bedingung.

Die Studie von 2018 Fit for purpose? The Facilitation Directive and the criminalisation of humanitarian assistance to irregular migrants: 2018 Update stellte fest, dass dieser Mangel an definitorischer Klarheit zu Rechtsunsicherheit und einer weit verbreiteten Nichtübereinstimmung der Mitgliedstaaten mit internationalen Rechtsstandards geführt hat. Der Studie zufolge halten sich nur vier EU-Mitgliedstaaten (Deutschland, Irland, Luxemburg und Polen) an die UN-Standards, die den Nachweis eines materiellen Nutzens bei der Strafverfolgung des Schleusertums verlangen. Sie stellte ferner fest, dass 13 Mitgliedstaaten, darunter Frankreich und das Vereinigte Königreich, nicht den Nachweis eines Gewinnmotivs verlangten, um das Verbrechen der Beihilfe zum Aufenthalt und zur Niederlassung zu begründen, was eine Nichteinhaltung der Beihilfe-Richtlinie selbst darstellt, die jedoch nicht zu Sanktionen oder Maßnahmen gegen diese Mitgliedstaaten geführt hat.

Der zweite Punkt der Schleusungs-Beihilfe-Richtlinie, der Raum für die strafrechtliche Verfolgung von humanitären Helfer*innen wegen Menschenschmuggels lässt, ist die humanitäre Ausnahmeregelung, die besagt, dass “jeder Mitgliedstaat beschließen kann, keine Sanktionen zu verhängen […], wenn das Ziel des Verhaltens darin besteht, der betroffenen Person humanitäre Hilfe zu leisten”.

Der freiwillige Charakter dieser Klausel lässt den Mitgliedstaaten jedoch die Möglichkeit offen, Personen, die humanitäre Hilfe für irreguläre Migrant*innen leisten wollen, strafrechtlich zu verfolgen. Darüber hinaus wird in der Richtlinie nicht definiert, was genau als “humanitäre Hilfe” gilt. Dies ermöglicht es den Mitgliedstaaten, die sich für die Anwendung der Ausnahmeregelung entscheiden, sehr enge Auslegungen des Begriffs “humanitäre Hilfe” zu formulieren, in denen beispielsweise nur Situationen von Leben und Tod abgedeckt sind. Aufgrund dieser Unklarheiten finden selbst in den wenigen Mitgliedstaaten, die die Ausnahmeregelung umgesetzt haben, darunter Belgien, Griechenland, Italien, Malta und das Vereinigte Königreich, weiterhin strafrechtliche Ermittlungen und Strafverfolgungen gegen humanitäre Akteur*innen statt.

Dementsprechend haben die strafrechtlichen Ermittlungen und Anklagen gegen NGOs, Freiwillige und Einzelpersonen (z.B. solche, die Familienmitgliedern helfen) im Zusammenhang mit Menschenschmuggel seit 2015 dramatisch zugenommen. Einem kürzlich erschienenen Bericht der Research Social Platform on Migration zufolge gab es bis Dezember 2019 mindestens 60 Fälle, an denen mindestens 171 Personen in 13 Mitgliedstaaten beteiligt waren: Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Kroatien, die Niederlande, Norwegen, Schweden, die Schweiz, Spanien und dem Vereinigte Königreich. Die meisten Fälle sind in Griechenland, Italien und Frankreich zu verzeichnen. Dem Bericht zufolge beruhten 44 Fälle auf dem Verbrechen der Beihilfe zur Einreise oder Durchreise, 10 auf dem Verbrechen der Beihilfe zum Aufenthalt. Sechs basierten auf gemischten Begründungen, in denen Vorwürfe wegen Menschenschmuggels mit Anschuldigungen wegen anderer Verbrechen wie Geldwäsche, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Spionage einhergingen.

Drängen auf Veränderung

Als Reaktion auf diese Fälle gab es mehrere Forderungen nach einer Klärung der Richtlinie. Die Studie  Fit for purpose? The Facilitation Directive and the criminalisation of humanitarian assistance to irregular migrants von 2016 stellte fest, dass die Schleusungs-Beihilfe-Richtlinie abschreckend auf die Bereitstellung von Hilfe für Migrant*innen und Flüchtende wirkte, und empfahl eine Rechtsreform, um die europäische Politik mit den internationalen Standards der Strafgerichtsbarkeit und der Strafrechte in Einklang zu bringen. In der Folge überprüfte die Europäische Kommission 2017 die Vermittlerrichtlinie erneut, kam jedoch zu dem Schluss, dass es keine ausreichenden Beweise dafür gäbe, dass Personen, die aus Mitgefühl handeln, strafrechtlich verfolgt werden, um eine Reform zu rechtfertigen.

Im Anschluss an eine von NGOs geführte Kampagne verabschiedete das Europäische Parlament im Juli 2018 eine Resolution zur Beendigung der Kriminalisierung der humanitären Hilfe. Es forderte die Mitgliedstaaten dazu auf, die Ausnahmeregelung für humanitäre Hilfe umzusetzen, und die Europäische Kommission, den Mitgliedstaaten klarere Leitlinien an die Hand zu geben. Daraufhin erklärte die Kommission erneut, dass es nicht genügend Beweise dafür gebe, dass die Schleusungs-Beihilfe-Richtlinie die Ursache der Kriminalisierung sei, um eine Gesetzesänderung zu rechtfertigen.

Im Juli 2019 wurde eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht und von über 100 europäischen Organisationen der Zivilgesellschaft unterzeichnet, in der die EU aufgefordert wurde, “die Kriminalisierung der Solidarität mit Migrant*innen und Flüchtenden zu beenden”. Sie enthält eine Reihe von politischen Empfehlungen. Erstens schlägt sie die Annahme von Leitlinien vor, die die Rechte zivilgesellschaftlicher Akteur*innen im Zusammenhang mit den Grenzkontrollmaßnahmen der EU und der Mitgliedstaaten und dem Kampf gegen Schmuggel betreffen. Zweitens fordert sie die unabhängige Überwachung der Handlungen, die gegen humanitäre Akteur*innen und Menschenrechtsverteidiger von Migrant*innen durchgeführt werden. Angesichts des gegenwärtigen Aufkommens populistischer Bewegungen und autoritärer Taktiken in ganz Europa muss der Schutz der Unabhängigkeit und Freiheit der gesamten Zivilgesellschaft eine Priorität sein.

Schließlich fordert sie die EU-Institutionen auf, die Richtlinie über Erleichterungen zu überarbeiten, um sie mit der im UN-Übereinkommen über die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität ausgearbeiteten Definition der Schleusung von Migrant*innen in Einklang zu bringen, die das Vorhandensein finanzieller oder anderer materieller Vorteile voraussetzt. Die EU sollte darüber hinaus die humanitäre Ausnahmeklausel, inklusive einer klaren Definition dessen, was genau als humanitäre Hilfe gilt, obligatorisch machen.

Die Ermittlung gegen und strafrechtliche Verfolgung von humanitären Helfer*innen wegen Schleusung von Migrant*innen ist nur eine Art, wie Menschen, die Migrant*innen und Flüchtenden in Europa helfen, ins Visier genommen werden. Verschiedene Berichte deuten auf eine weit verbreitete polizeiliche Gängelung von Freiwilligen, Aktivist*innen und humanitären Helfer*innen hin, die in Ländern wie Frankreich, Griechenland, Italien und Kroatien auftritt. Während Such- und Rettungs-NGOs mit vielen Anschuldigungen und Anklagen im Zusammenhang mit Menschenschmuggel konfrontiert wurden, haben bürokratische und administrative Sanktionen ihre Arbeit mindestens ebenso erfolgreich behindert, z.B. in den Fällen der Mission Lifeline, des Flugzeugs Moonbird von Sea Watch und des Sea-Watch 3 Schiffs. Gesetze, die nichts mit der Vermittlerrichtlinie zu tun haben, wurden auch dazu genutzt, Akteur*innen der Zivilgesellschaft, die sich für Migrant*innen einsetzen, zu kriminalisieren, wie die Verurteilung der Stansted 15 wegen Terrorismus im Vereinigten Königreich, die Verurteilung von Loan Torondel wegen krimineller Diffamierung in Frankreich und das ungarische Stop-Soros-Gesetz zeigen.

Die weit verbreitete gezielte Verfolgung von Personen und Organisationen, die Migrant*innen und Flüchtenden in Europa helfen, ist eine sehr beunruhigende Praxis. Sie schränkt nicht nur die ohnehin schon knappen Hilfsquellen für Migrant*innen und Flüchtende weiter ein, sondern ist auch ein Angriff auf die Freiheit der Zivilgesellschaft und damit einer der Grundlagen der liberalen Demokratie. Während die strafrechtliche Verfolgung von humanitären Helfer*innen wegen Schleusens von Migrant*innen nur ein Teil eines größeren Bildes ist, würde eine Reform der Vermittlerrichtlinie, die diese Art der Kriminalisierung entscheidend verhindert, eine klare Botschaft an die europäischen Behörden senden: dass die Rettung von Leben und der Schutz der grundlegenden Menschenrechte anderer nicht kriminalisiert werden dürfen.

Laura Schackist Doktorandin in Politik und Informationssicherheit an der Royal Holloway Universität in London. In ihrer Forschung widmet sie sich der Kriminalisierung zivilgesellschaftlicher Unterstützer*innen von Schutzsuchenden. 2019 forschte sie hierzu vier Monate in Frankreich, Griechenland und Italien.


Dieser Blog-Beitrag ist am 6. Juli 2020 auf Border Criminologies erschienen. Ins Deutsche wurde er von CHA-Mitarbeitenden übersetzt.

Wie Sie diesen Blog-Beitrag zitieren (Harvard style) 

Schack, L. (2020). Humanitarian Smugglers? The EU Facilitation Directive and the Criminalisation of Civil Society. Available at: https://www.law.ox.ac.uk/research-subject-groups/centre-criminology/centreborder-criminologies/blog/2020/07/humanitarian [date]


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