Autor*in: | Christine Meissler |
Datum: | 23. November 2021 |
Mitte November hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass die Androhung von Haftstrafen für Personen, die Asylbewerber:innen in Ungarn bei ihrem Asylantrag unterstützen, gegen EU-Recht verstößt. 2018 hatte Ungarn ein Gesetz beschlossen, das unter dem Schlagwort „Stopp-Soros-Gesetz“ bekannt wurde. Das Gesetz erklärt Hilfe bei „unzulässigen“ Asylanträgen zur Straftat. Als Beispiele für strafbare Tätigkeiten nannte das Gesetz zum Beispiel die Verbreitung von Informationsmaterial. Wer dagegen verstößt, der:m drohen Haftstrafen bis zu einem Jahr. Das Gesetz erlaubt auch die Verhängung von Strafen gegen ganze Organisationen. Weil die Formulierungen vage sind und nicht ausreichend festlegen, welche Handlungen strafbar sein können, ist das Gesetz ein perfektes Instrument der Einschüchterung und Abschreckung. Geklagt hatte die EU-Kommission, weil damit das Recht der Asylbewerber:innen beschnitten werde, mit Organisationen zu kommunizieren und Unterstützung zu erhalten. Dieser Einschätzung ist der EUGH nun gefolgt und bringt so zumindest einen Hoffnungsschimmer für das zivilgesellschaftliche Engagement für Geflüchtete in Ungarn. Denn ob Ungarn dem Urteil folgen wird, bleibt abzuwarten.
Keine Hilfe für die wahren Opfer der Erpressung Lukaschenkos
Wie schwer es zivilgesellschaftlichem Engagement gemacht wird, sich für Geflüchtete in Not einzusetzen, lässt sich derzeit eindrücklich an der belarussisch-polnischen Grenze beobachten. Die wahren Opfer der Erpressung Lukaschenkos sind nicht die EU insgesamt oder Polen oder Deutschland, sondern die tausenden gestrandeten Geflüchteten, die bei Minusgraden ums Überleben kämpfen. Laut polnischen Hilfsorganisationen sind bisher mindestens elf Personen gestorben. Bereits Ende August hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Polen aufgefordert, die Geflüchteten zu versorgen. Doch statt selbst zu helfen, unterbindet Polen kurz darauf jede Unterstützung durch die Zivilgesellschaft: Das polnische Parlament verhängt eine Woche später am 2. September den Ausnahmezustand. Seitdem ist Hilfsorganisationen und Journalist:innen der Zugang zum Grenzgebiet verboten. In einem drei Kilometer breiten Sperrgebiet dürfen sich nur Militär und die lokale Bevölkerung aufhalten. Viele der Leute vor Ort tun, was sie können, um zu helfen, und werden dabei von Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen unterstützt. Sie sind aber wegen des Ausmaßes der Krise und der Not in dem schwierigen sumpfigen Gelände völlig überlastet: Sie kommen an ihre Grenzen und sind selbst traumatisiert. Denn sie haben weder die Erfahrung noch die Ausrüstung. Dazu kommt die Angst vor einem Strafverfahren.
Strafverfolgung von Fluchthilfe
Wie in Polen sind in ganz Europa Freiwillige, zivilgesellschaftliche Organisationen und Kirchen aktiv geworden, um staatliche Lücken bei Such- und Rettungseinsätzen und bei der Aufnahme und der Bereitstellung humanitärer Hilfe zu stopfen. Statt Unterstützung und Solidarität erfahren sie jedoch immer mehr Hindernisse. In ihrem am 15. November veröffentlichten Bericht dokumentieren die Weltorganisation gegen Folter (OMCT) und die Fédération internationale des ligues des droits de l’Homme (FIDH) die Diffamierung, administrative Behinderung und Strafverfolgung gegen Menschen und Organisationen, die sich für Geflüchtete und Migrant:innen einsetzen. Der Bericht basiert auf 20 Interviews mit Organisationen und Aktivisten in elf europäischen Ländern sowie mit zivilgesellschaftlichen Netzwerken. Drei besorgniserregende Muster sind in ganz Europa zu beobachten:
(1) Ein feindliches Umfeld: Mit der Dämonisierung und Entmenschlichung von Geflüchteten als Gefahr für unsere Sicherheit schaffen europäische Regierungen, Politiker:innen und Medien ein feindliches Umfeld für Migrant:innen und jene, die sich für Menschenrechte einsetzen und sich solidarisch zeigen. Die Folge sind Verleumdungskampagnen und Hassreden, die in vielen Fällen eskaliert sind zu physischer Gewalt gegen Migrant:innen und Menschenrechtsverteidiger:innen, die diese unterstützen. Öffentliche Anschuldigungen haben auch dazu geführt, dass viele Organisationen in Ländern wie Zypern, Ungarn und der Türkei ihre Arbeit einstellen mussten.
(2) Rechtliche Hürden: Europäische Staaten haben rechtliche und administrative Hürden aufgebaut, die die Arbeit von Organisationen bewusst behindern, die sich für Geflüchtete und Migrant:innen einsetzen: unter anderem unverhältnismäßige Auflagen für ihre Registrierung, Sondersteuern, Einschränkungen bei Fundraising und finanzieller Unterstützung, Zugangsverweigerungen zu Flüchtlingslagern, das Lahmlegen der Seenotrettung durch Verhängung von illegitimen Geldstrafen.
(3) Kriminelle Verfolgung: Unterstützer:innen von Geflüchteten und Migrant:innen müssen langwierige Strafverfahren wegen Menschenhandel, Beihilfe zur Einreise oder Erleichterung des Aufenthalts über sich ergehen lassen. In 24 der 27 EU-Länder ist die Erleichterung der Einreise und des Transits von Migrant:innen in Europa eine Straftat, selbst wenn sie ohne finanziellen Profit passiert. Nur in Deutschland, Irland, Luxemburg und Portugal muss für eine Verurteilung die finanzielle Gewinnabsicht bewiesen werden. Laut einer Studie von ReSoma, wurden allein zwischen 2015 und Ende 2019 mindestens 171 Unterstützer:innen in 13 europäischen Staaten kriminalisiert, also als Kriminelle bezeichnet: in Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Griechenland, Kroatien, Italien, den Niederlanden, Norwegen, Schweden, Spanien und in der Schweiz. Gegen 60 von ihnen wurden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet.
Unterstützen statt Kriminalisieren
Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten haben sich in den vergangenen Jahren auch wegen des wachsenden Einflusses von nationalistischen Bewegungen immer mehr vom Flüchtlingsschutz verabschiedet und verletzen ihre diesbezüglichen internationalen Verpflichtungen. Es ist beschämend, dass diejenigen, die versuchen, das menschliche Antlitz Europas zu wahren, die alles tun, um staatlichen Versäumnisse zu kompensieren, die Menschenleben retten und die legitimen Rechte von Geflüchteten verteidigen, immer öfter behindert und strafrechtlich verfolgt werden. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten, darunter Deutschland, müssen ihre Asylpolitik endlich überdenken und statt Abschreckung und sicherheitspolitischen Überlegungen die Menschenrechte in den Mittelpunkt stellen. Alle Formen der Schikanierung, Behinderung und Kriminalisierung einschließlich der strafrechtlichen Verfolgung müssen beendet werden. Die EU-Staaten müssen ihre Verpflichtungen aus dem internationalen Flüchtlingsrecht erfüllen und Menschen auf der Flucht und in humanitärer Not – auch an der polnisch-belarussischen Grenze – aufnehmen, humanitäre Hilfe leisten und möglich machen. Sie müssen ein Umfeld schaffen, in dem Nichtregierungsorganisationen und Aktivist:innen ihre wichtige Arbeit ungehindert und ohne Einschüchterung verrichten machen können. Das heißt auch, dass sie die Leistungen des Engagements für Geflüchtete anerkennen und aktiv unterstützen müssen.
Christine Meissler ist seit 2013 Referentin für den Schutz der Zivilgesellschaft bei Brot für die Welt. Zuvor war sie bei FriEnt, InWEnt und IKRK. Sie ist Diplom-Politologin und hat einen Master in International Human Rights Law.
Foto: Hermann Bredehorst
Dieser Artikel erschien zuerst auf der Seite von Brot für die Welt.