Zur Lokalisierung der Lokalisierung – von Nationalisierung zu echter Partnerschaft

Autor*in: Kilian Krause
Datum: 26. August 2021

Einmal mehr stand das Thema Lokalisierung im Zentrum zahlreicher Debatten, als unterschiedlichste Akteur*innen auf der Grand-Bargain-Jahrestagung in Juni eine Weiterentwicklung des Grand Bargain (GB) zu einem GB 2.0 beschlossen. Neben Verbesserung der Qualität der Finanzierung, soll auch künftig Lokalisierung eine Top-Priorität der versammelten Geberregierungen, UN-Organisationen und internationalen Nichtregierungsorganisationen (INROs) sein. Doch damit diesmal auf Worte auch Taten folgen, müssen vor allem internationale NROs sich der Frage stellen, ob es ihnen im Kern um ihre eigene Nationalisierung oder eine ernsthafte Lokalisierung der Hilfe geht.

Um die Lokalisierung der humanitären Hilfe weiter voranzubringen, haben sich über die letzten Jahre zahlreiche Strategien diverser humanitärer Akteur*innen und Organisationen herauskristallisiert. Mit dem Ende der ersten Arbeitsphase des Grand Bargain und der darin zu Grunde gelegten Lokalisierungsagenda wurden jene Lokalisierungsstrategien jüngst erneut reflektiert. Dazu zählen auch die Strategien einiger internationaler humanitärer Organisationen, welche teils schon lange vor dem Humanitären Weltgipfel 2016 und dem beschlossenen Reformpaket Bestrebungen verfolgten, ihre Organisationen diverser zu gestalten und dem Nord-Süd-Machtgefälle innerhalb des humanitären Sektors entgegenzuwirken.

Im Zuge dessen verlegten einige prominente INROs Teile ihrer Organisationseinheiten in Länder des Globalen Südens. Diese national registrierten INRO Zweigstellen internationaler Bündnisse treten nun als (eigenständige) lokale oder nationale Akteur*innen auf. Eine Form dieser Herangehensweise, bei dem INROs bewusst darauf abzielen, eine wachsende Anzahl nationaler Mitgliedsorganisationen zu schaffen, die rechtlich unabhängig, aber dennoch Teil einer internationalen Allianz oder Föderation sind, wird oft auch als „Multinationalisierung“ bezeichnet.

Während INROs durch diese Nationalisierungsprozesse zwar Ungleichgewichte innerhalb ihrer Föderationen und Allianzen angehen, werden geleichzeitig unerwartete Nebeneffekte hervorgerufen, die der eigentlichen Lokalisierung entgegenwirken und von vielen Seiten – vor allem von lokalen Akteur*innen des Globalen Südens – stark kritisiert werden. Dieser Blog widmet sich dem zunehmenden Trend der (Multi-)Nationalisierung von INROs und diskutiert die Hintergründe und kritischen Standpunkte hierzu.

Die Macht des Geldes

Die Nationalisierungsbemühungen zahlreicher INROs ziehen vor allem seit dem Grand Bargain teils heftige Kritik nach sich. Damit einher geht die Frage, wer letztendlich von Lokalisierung und dem im Grand Bargain festgelegten Ziel von 25% direkter Finanzierung lokaler Hilfsmechanismen profitiert. Dies ist wortwörtlich eine Multi-Millionen-Dollar-Frage. Denn waren internationale Organisationen bisher fast exklusive Erstempfänger*innen öffentlicher Gelder, welche sie dann – abzüglich eines gewissen Prozentsatzes zur Deckung ihrer eigenen Kosten – an ihre lokalen Partner*innen weiterleiteten, bekamen sie nun ernstzunehmende Konkurrenz ausgerechnet von ihren lokalen Kolleg*innen, die ihr Geschäftsmodel ernsthaft in Frage zu stellen drohten.

Betrachtet man jedoch, wer nun – fünf Jahre nach dem Grand Bargain – Zugang zu diesen und anderen Finanzierungsmitteln und Entscheidungsprozessen hat, erscheinen solche Bedenken als gegenstandslos. Obgleich ausnahmslos alle Länder, die aktuell langanhaltende Krisen erleben und am meisten auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, im Globalen Süden liegen, sind es weiterhin etablierte internationale Akteur*innen, die jene Mittel und Prozesse kontrollieren. Entgegen aller Befürchtungen und mancher Hoffnung von Reformern hat sich also wenig getan. Wie kann das sein?

Eine Antwort auf diese Frage scheint auch im Zugang zu den oben erwähnten 25% der lokal zu vergebenen humanitären Finanzierungsmitteln zu liegen. Durch ihre Nationalisierungsstrategie konnten sich diesen auch INROs erhalten. Hinzukommt, dass der Grand Bargain weiterhin zuließ, dass die erstrebten 25% über maximal eine Mittler-Organisation transferiert werden. Im vergangenen Jahr erreichten nur 3.1% aller humanitärer Mittel genuin lokale und nationale Akteur*innen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Anschlussfrage, wer – wenn wir die Lokalisierungsagenda ernst nehmen – eigentlich als lokale*r Akteur*in betrachtet werden sollte und damit Anspruch auf die viel-diskutierten lokalen Mittel hat. Auch wenn diese Frage schon häufig diskutiert wurde, ist sie dennoch weiterhin grundlegend für eine kritische Auseinandersetzung mit der Nationalisierung von INROs und den grundlegenden Prinzipien der Lokalisierung. Denn jene Dissonanz der Lokalisierung und (Multi-) Nationalisierung hat ihren Ursprung genau in dieser definitorischen Vagheit des Grand Bargain in Bezug auf den Lokalisierungsbegriff.

Obgleich die „Localisation Marker Working Group“ (LMWG) sich zur Aufgabe machte, Klarheit darüber zu schaffen, welche Akteurinnen und Organisationen unter das 25%-Ziel fallen, konnten einige der mächtigsten internationalen Verbände und INROs mit Länderbüros im Globalen Süden die letztendlich verabschiedete Definition von lokalen und nationalen Akteurinnen maßgeblich beeinflussen. Diese kommt zum Schluss, dass “[…] ein*e lokale*r Akteur*in nicht als (international) angeschlossen gilt, nur weil er*sie Teil eines Netzwerks, einer Konföderation oder einer Allianz ist, in der er*sie unabhängige Fundraising- und `Governance-Apparate´ unterhält”. Dies schließt nationale Branchen multinationaler Großorganisationen explizit mit ein und führt einen Mechanismus zur Unterstützung kleiner, lokal gewachsener Organisationen somit ad absurdum.


Unerwünschte Nebenwirkungen

Es scheint als sei die globale Debatte in eine Sackgasse geraten. Denn durch die diversen institutionellen und organisatorischen Strukturen von NROs, lassen sich INROs und lokale/nationale NROs (L/NNROs) nicht immer klar voneinander abgrenzen.Reicht die Bandbreite des internationalen Engagements doch bis hin zu den oft anders gelagerten Strukturen von NROs mit kirchlichen Träger*innen, die in fast allen Ländern der Erde vertreten sind, oft seit mehreren Jahrzehnten und tief verankert in lokalen Strukturen, in denen die entsandten Vertreter*innen als eingebettete Fachkräfte arbeiten. In der Tat sind es insbesondere NROs mit kirchlichen Träger*innen, die sich mit am längsten und lautesten für die Lokalisierung und eine generelle Reform des internationalen humanitären Systems einsetzen. Nicht zuletzt durch ihre Ansprechpartner*innen in lokalen Diözesen und Gemeinden. So werden beispielweise zahlreiche Forschungs- und Pilotprojekte zur Lokalisierung von ebendiesen (co-)finanziert und umgesetzt.

Dennoch wird bisweilen die Forderung erhoben, dass Organisationen mit internationalen Ursprüngen und/oder Anbindungen aus einer Lokalisierungsperspektive und somit als lokale Akteur*innen ausgeschlossen werden sollten. Hierbei wird vor allem von einer breiteren de-kolonialen Sichtweise heraus argumentiert, welche die Dominanz und Überlegenheit dieser INROs gegenüber nationalen und lokalen Organisationen, also jenen ohne internationale Anbindungen, berücksichtigt. Diese Sichtweise wird oft als Transformationsperspektive beschrieben.

Dem gegenüber steht die Dezentralisierungsperspektive. Hierbei geht es insbesondere um die physische Nähe zu Krisengebieten und Betroffenen, unabhängig davon, wer diese Organisationen sind, wo sie ihren Ursprung haben und von wo aus sie geführt werden. Folglich würden sich unter zweiterem Gesichtspunkt national registrierte Büros von INROs, sowie national angeschlossene NROs für das im Grand Bargain festgelegte Finanzierungsziel von 25% qualifizieren.

In diesem Sinne haben Nationalisierungsbestrebungen von INROs durch ihren Dezentralisierungsansatz einen direkten Einfluss auf die Art, wie Lokalisierung verstanden wird und insbesondere auf den Raum, den lokale L/NNROs in einem bestimmten humanitären Kontext einnehmen.

Das Beispiel Indien macht diese Zusammenhänge deutlich. Hier zeigt sich, wie nationalisierte INROs dazu beitragen, dass sich der Raum für L/NNROs weiter verkleinert, da zweitere nicht mit den ehrgeizigen Fundraising-Plänen internationaler Organisationen konkurrieren können. So beklagen einige NROs, dass (national registrierte) Länderbüros etablierter INROs „die sich selbst als indische Organisation bezeichnen“ und die mit Millionen von Dollar Startkapital in inländische Fundraising-Bereiche vordringen, den indischen Fundraising-Raum kontrollieren und sich zu eigen machen. Ähnliche Erfahrungen wurden auch in Nigeria gemacht, wo L/NNROs von verstärkten Wettbewerb um institutionelle Finanzierung für nigerianische Akteur*innen berichten.

In einem offenen Brief an „INROs die ihre Organisationen lokalisieren möchten“ beklagen mehr als 140 L/NNROs dieses Phänomen der „fehlgeleiteten Lokalisierungsagenda, die in der Praxis nur dazu führt, die Machtdynamik zu verstärken und letztlich den Raum für die lokale Zivilgesellschaft weiter zu verkleinern“. So heißt es weiter: „Die Tatsache, dass Sie (INROs) nun Gelder innerhalb unserer Länder mobilisieren, hält uns in einer Herr / Knecht-Beziehung, in der wir (lokale Akteur*innen) ständig um Zuschüsse von Ihren Institutionen betteln, während wir selbst keine Grundfinanzierung erhalten. Das ist nicht das, was wir brauchen oder wollen.“

Von Konkurrenz zu Partnerschaft

Wenn internationalen Akteur*innen also wirklich daran gelegen ist, Lokalisierung im Sinne einer Stärkung lokal gewachsener humanitärer Strukturen, also im Sinne einer Transformierung, weiter voranzubringen, dann sollten INROs verstärkt ebenbürtige und gleichberechtigte Partnerschaften priorisieren, anstatt sich selbst zu lokalisieren. Wenngleich einige Nationalisierungsbestrebungen ursprünglich den Zweck verfolgten, institutionelle Diskurse internationaler Organisationen diverser und zeitgemäßer zu gestalten, müssen jene unerwarteten und vor allem unerwünschten Auswirkungen kritisch reflektiert und angegangen werden. Denn der Wettbewerb um humanitäre Ressourcen innerhalb der Länder des Globalen Südens ist eine weitere Manifestation neokolonialer Problematiken, der sich internationale humanitäre Akteur*innen stellen müssen.

Die letzten fünf Jahre haben endgültig gezeigt, dass Lokalisierung mehr als ein technisches und operatives Thema ist. Es ist auch und vor allem ein politischer Diskurs. Die Auswirkungen der Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie auf die humanitäre Hilfe und ihren Akteur*innen haben erneut die Notwendigkeit eines transformativen Lokalisierungsansatzes in den Vordergrund gerückt. Während zu Beginn der Pandemie etliche internationale Mitarbeitende (so-genannte „Expats“) aus Länderbüros des Globalen Südens abgezogen wurden, erfüllten (wieder einmal) einzelne lokale Akteur*innen sowie L/NNROs die Mammutaufgaben.

Ergebnis: In einigen Fällen konnten lokale Expertise und Netzwerke stärker genutzt, Hierarchien abgebaut und Entscheidungsfindungen lokalisiert und dadurch effektiver gestaltet werden. Der GB 2.0 erkennt dies durch die Priorisierung der Lokalisierung an – ein wichtiger und entscheidender Schritt. Nun ist es an der Zeit, dass INROs sich klar positionieren und sich für ihre lokalen Partner*innen im Globalen Süden einsetzen. Wenngleich Lokalisierung nicht als eine Anti-INRO-Agenda verstanden werden sollte, darf sie dennoch nicht zu Gunsten von institutionellen Interessen von INROs missbraucht werden. Vielmehr sollten internationale Akteur*innen ihre Rollen und Mandate kritisch reflektieren und sich zu Gunsten ihrer lokalen Partner*innen einsetzen, anstatt darum zu kämpfen, ihre Organisationen und Präsenz in Ländern des Globalen Südens aufrechtzuerhalten und weiter auszubauen. Nur dann können eine wirkliche Lokalisierung im Sinne der Transformierung stattfinden und gerechte und gleiche Wettbewerbsbedingungen gewährleistet werden.

Kilian Krause war von März bis Juli 2021 Praktikant beim Centre for Humanitarian Action. Seine Bachelor Arbeit über “Improved Partnerships fostering localisation of humanitarian aid in South Sudan“ hat er mit Save the Children Holland und KUNO (Humanitarian Exchange Platform of the Netherlands) geschrieben.