Lokalisierung nach COVID-19 und Black Lives Matter

Author: Darina Pellowska
Date: 28. January 2021

Abstract: Trotz der Impulse aus der COVID-19-Response und der Black Lives Matter Bewegung geht die Lokalisierung der humanitären Hilfe weiterhin schleppend voran. Dieser Blog zeigt auf, wie agiles Management und eine Netzwerkperspektive helfen können, etablierte Governancestrukturen im humanitären Projektmanagement aufzubrechen und alle relevanten Akteursgruppen einzubinden.

Lokalisierung nach COVID-19 und Black Lives Matter: Warum agiles Management und eine Netzwerkperspektive nützen können

2021 jährt sich die Verpflichtung der Unterzeichner*innen des Grand Bargains zur einer stärkeren Einbindung lokaler und nationaler Akteur*innen in das globale humanitäre System bereits zum fünften Mal. Seither gab es viele Möglichkeiten zur Diskussion und Reflektion, vor allem über das Konzept der sogenannten „Lokalisierung“ an sich. Allein die Umsetzung erscheint vielfach noch schleppend. So weist die von VENRO im September 2020 veröffentlichte Handreichung zur Lokalisierung in der humanitären Praxis auf vielfältige weiterhin bestehende individuelle, institutionelle und externe Herausforderungen hin. Auch der Grand Bargain Annual Independent Report 2020 lobt zwar explizit Fortschritte im „Workstream 2“, unter den die Lokalisierungsverpflichtungen fallen. Diese werden jedoch im gleichen Atemzug als bloße normative Verbesserungen enttarnt. Degan Ali, Direktorin der Somalischen NGO Adeso, folgert scharf: “[Localization is] a lot of rhetoric — a lot of nice aspirational language, but no real action and substantive systems change.”

Vor diesem Hintergrund fragt dieser Blog: Wie können wir eine effektive Umsetzung der Lokalisierungsagenda unterstützen? Dazu werden mit der COVID-19-Response und der Black Lives Matter (BLM) Bewegung zunächst zwei wichtige Impulse des vergangenen Jahres resümiert, bevor sich der Blick auf zwei vielversprechende Ansätze für die Zukunft richtet.

COVID-19 – ein Gamechanger?

Die COVID-19 Pandemie zwang 2020 viele internationale Kolleg*innen in den Durchführungsländern dazu, ihre Einsatzgebiete zu verlassen. Zurück blieben hauptsächlich nationale Mitarbeitende internationaler NGOs, sowie nationale und lokale NGOs – eine gute Gelegenheit, so schien es, um lokalen Mitarbeitenden und Partner*innen nicht nur mehr operative Verantwortung, sondern auch mehr Entscheidungsgewalt zu übertragen.

Bei Organisationen, die einen solchen Übergang bereits langfristig geplant und mit entsprechenden Strategien begleitet hatten, gestaltete sich dieser vielfach so reibungslos, dass er Skeptiker*innen sprachlos zurückließ. So berichtet Win Tun Kyi, wie es der Karuna Mission Social Solidarity in Myanmar durch mehrjährige Förderung von Organisationsentwicklungsprozessen, sowie ein starkes nationales NGO-Netzwerk und einen stetigen Ausbau direkter Geberbeziehungen im Vorfeld der Pandemie gelang, die COVID-19-Response in Myanmar sehr erfolgreich zu bewerkstelligen. Ähnlich erfolgreich beschreibt die Humanitarian Advisory Group die Zyklon-Response in Vanuatu, die – lediglich begleitet durch Online-Beratungen internationaler Expert*innen – quasi im Alleingang verschiedenster lokaler Akteur*innen vor Ort erfolgte.

Viele Risiken und Befürchtungen traten nicht ein – was die Frage aufwarf, inwiefern internationale Akteur*innen vor Ort überhaupt noch gebraucht würden: “Covid-19 is […] forcing the humanitarian sector to ask hard questions about who is best placed to deliver aid given the local context, restrictions and needs – and even whether international actors are needed on the ground at all.”

Auf der anderen Seite konnten Organisationen, die (noch) keine Lokalisierungsschritte unternommen hatten, diese auch nicht mitten in der globalen Pandemie nachholen. Dies führte, wie in einem Online-Event des Centre for Humanitarian Leadership diskutiert wurde, zu zahlreichen Komplikationen. So hatten Homeoffice-Regelungen in den nördlichen Ländern und die Evakuierung internationaler Entscheidungsträger*innen aus den Umsetzungsländern erhebliche Verzögerungen in den Projektabläufen zur Folge. Statt sie zu vereinfachen oder gar Kompetenzen zu Gunsten lokaler Akteur*innen zu verschieben, wurden etablierte Entscheidungsprozesse beibehalten und lediglich durch online-Regelungen ergänzt.

Auch das globale humanitäre Finanzierungssystem blieb zu großen Teilen in alten Mustern verhaftet: Charter4Change berechnete im Juni 2020, dass nur 0,1 Prozent des Finanzvolumens aus dem COVID-19 Global Humanitarian Response Plan direkt an lokale Organisationen vergeben wurden. Der überwältigende Großteil von 95% floss über das UN-System – ein Wert weit über dem anderer humanitärer Responses. Auch wenn durch Remote-Programming und Sub-Contracting-Mechanismen lokale Partner*innen letztlich wieder in die Umsetzung der internationalen Hilfen eingebunden wurden, verblieb durch dieses System dennoch ein beachtlicher Anteil des Verwaltungsbudgets und der Entscheidungsgewalt weiterhin bei internationalen Playern. Gleichzeitig wurde der Hauptteil der operativen Arbeit vor Ort mehr als je zuvor von nationalen INGO-Mitarbeitenden und lokalen Organisationen geleistet.

Neue Impulse durch die Black Lives Matter Bewegung

Auch die globale Black Lives Matter (BLM) Bewegung ließ 2020 die Hoffnungen vieler lokaler Akteur*innen auf neue Impulse in der Umsetzung der Lokalisierungsagenda aufleben. Auch im humanitären Sektor wurden die Stimmen nach einer nachhaltigen und effektiven Bekämpfung rassistischer und kolonialer Strukturen entsprechend lauter.

So fragte sich Hugo Slim Anfang Juni 2020 fast rhetorisch: “Is racism part of our reluctance to localise aid?”, um dann selbstkritisch zuzugeben: „We can’t quite bear to share the system with ’them‘. We don’t really trust ‘them’ to get it right. […] And we like what we do and the rewards and reputation that it brings. Quite simply, we don’t want to give all this away.”

Andere fühlten sich ermutigt ihre Diskriminierungserfahrungen zu teilen. Hajir Maalim von Action Against Hunger berichtete beispielsweise in einem TNH Artikel: “The due diligence by donors before funding a project is to cast the local in its own image – do you have a bank account, do you have a risk policy, a website, an email address?”. Und Jessica Alexander erklärte: “In other words, the aid sector extends an invitation to them to be like us, to take on our values, adopt our logframes and indicators, to implement our programmes based on our agendas.” Wale Osofisan ergänzte: „I have seen on numerous occasions, close to my two decades of working in the sector, where international organizations send young, inexperienced, Western-educated staff to run programs and manage people with over two decades of experience working within their own country.”

Diese und andere Erfahrungsberichte mündeten in einem erstarkten Ruf nach einem humanitären „System Change“. Dabei wurde der Lokalisierungsgedanke, also das Empowerment lokaler Akteur*innen im Sektor, mit Konzepten wie Postkolonialismus, Diversität, Partizipation, Accountability to Affected Populations und People-Led Humanitarian Assistance verbunden. Diese sollen nun einen ganzheitlichen Blick auf strukturelle Ungerechtigkeiten im humanitären System erlauben.

Die BLM Bewegung trug damit maßgeblich zu einer offeneren Diskussionskultur in der humanitären Hilfe bei. Um diese abzubilden und weiter zu stärken, hat das CHA Ende 2020 eine Reflektionsreihe ins Leben gerufen, in der Rassismus in deutschen Hilfsorganisationen reflektiert und gemeinsam bearbeitet werden soll. Ob und wie sich dies in konkreten Veränderungen materialisiert, bleibt noch abzuwarten.

COVID-19 und die Anti-Rassismus-Bewegung können also ein Momentum sein, das die Umsetzung der Lokalisierungsagenda und Bestrebungen zu einem gleichberechtigten humanitären System unterstützt und/oder gar beschleunigt. Gleichzeitig wurden Schwachstellen aufgedeckt und in manchen Fällen sogar, wie unter einem Brennglas, verstärkt. Das hat gezeigt: Es liegt noch viel Arbeit vor uns. Also, wo packen wir an?

Den Systemwandel im Management angehen

Eine der schwierigsten Herausforderungen für jede*n Einzelne*n ist sicherlich eigene Arbeitsweisen nicht nur in Frage zu stellen, sondern auch aktiv zu ändern – auch und gerade, wenn das bedeutet, etablierte Machtverhältnisse zu dekonstruieren, und es nachhaltige finanzielle und konzeptionelle Anstrengungen sowie erhebliche Investitionen in Zeit und Kommunikation mit sich bringt.

Charta4Change ist hierbei bereits mit gutem Beispiel vorangegangen. Das Berichtsformat für die C4C Progress Reports wurde 2020 dahingehend verändert, dass nun auch über die Umsetzung der Lokalisierungsverpflichtungen in den Länderbüros berichtet wird anstatt Fortschritte nur in den Headquarters abzufragen. Auch HPG geht neue Wege. Larissa Fast beschrieb in einem Paper bereits 2019 die Umsetzung einer partizipativeren Forschungspraxis in der Humanitarian Policy Group.

Dabei wird klar, wie schwer es ist, starre hierarchische Macht- und Governancestrukturen aufzubrechen und ein lineares Management sowohl innerhalb der eigenen Organisation als auch in der Zusammenarbeit mit Partner*innen hinter sich zu lassen. In vielen Unternehmen bereits praktizierte Ansätze aus der Unternehmens- und Organisationsentwicklung, wie agiles Management und Change Management (deutsch: Veränderungsmanagement), können helfen diese Hürden zu überwinden. Agiles Management meint dabei ein Arbeiten in kleinen Arbeitsgruppen und losen Netzwerken mit flachen Hierarchien und kurzen Umsetzungszyklen statt in starren linearen Projektabläufen. Der Fokus liegt mehr auf einem ergebnisoffenen flexiblen Wertschöpfungsprozess statt auf vorfestgelegten Zielmarken. Dabei wird hauptsächlich auf Vertrauensbasis und mit viel Entscheidungsfreiheit für die einzelnen Teams gearbeitet. Druck und Kontrolle durch Vorgesetzte werden im Sinne einer Plural Leadership durch Eigenverantwortung ersetzt. Das Veränderungsmanagement gibt zusätzlich Strategien an die Hand, wie solch ein tiefgreifender Wandel von Organisationsstrukturen gelingen kann.

Die Zusammenhänge zwischen der in vielen Organisationen und Kooperationen noch vielfach gelebten autoritären (Partner-)Managementkultur und der schleppenden Lokalisierungsumsetzung scheinen evident: Wo üblicherweise Vorgesetzte entscheiden und Weisungen erteilen und wenig eigenverantwortlich gearbeitet wird, hat ein Empowerment lokaler Akteur*innen keine Chance. So erlebte ich 2019 im Südsudan, wie Projektmanager*innen ihre Teams und Projektbegünstigte vor internationalen Partner*innenbesuchen instruierten und Projekte aufhübschten, damit bei dem angekündigten „hohen Besuch“ alles glatt verläuft und möglichst nur positive Projektergebnisse gezeigt werden konnten. Patricia Ward bestätigt diese Eindrücke in ihrem Paper über die Arbeitsbeziehungen in humanitären Organisationen in Jordanien.

Solche Arbeitsweisen sind kontraproduktiv und wirken einer partizipativen humanitären Hilfe entgegen. Wir brauchen eine Zusammenarbeitskultur, in der wir einander ehrlich und auf Augenhöhe unsere Erfolge und Herausforderungen gleichermaßen zeigen und gemeinsam an ihnen arbeiten können. Angst vor Autoritäten – egal ob innerhalb der eigenen Organisation, oder in der Zusammenarbeit mit Partner*innen – behindert dies nur. Wenn Lokalisierung ernst genommen werden soll, bedeutet sie nicht nur formell gleichberechtigte Kooperationen mit lokalen Akteur*innen. Sie beinhaltet auch einen Wandel in der Managementkultur insgesamt – sowohl im Umgang mit den eigenen Mitarbeitenden als auch im Umgang mit Partner*innen. Flache Hierarchien und agile Managementkonzepte sind gefragt.

Unterschiedlichste Akteur*innen mitdenken – eine Netzwerkperspektive

Bei allen wichtigen Bestrebungen die professionelle humanitäre Hilfe zu lokalisieren, das heißt besonders lokale Akteur*innen zu stärken, sollten die Komplexität und potenzielle Komplementarität der unterschiedlichen an humanitären Responses beteiligten Akteur*innen nicht vernachlässigt werden. Bei der Frage, wer am besten für die Übernahme bestimmter Aufgaben geeignet ist, sollte es nicht ausschließlich um humanitäre Organisationen und deren geographische Label wie „global“, „international“, „lokal“ oder „national“ gehen. Solche Kategorien sind allzu theoretisch und gehen an der komplexen Realität gemischter NGO-Teams und an den durchaus diversifizierten Unterstützungsnetzwerken Betroffener vorbei. Stattdessen sollte es um die Stärkung lokaler Strukturen gehen.

So konnten in der COVID-19-Pandemie zum Beispiel zunächst internationale, dann aber auch nationale Organisationen aufgrund internationaler und nationaler Reisebeschränkungen zunächst nicht mehr arbeiten. Das unterbrach, wie oben schon beschrieben, viele für die Umsetzung von humanitären Projekten wichtige Beziehungen und Arbeitsabläufe und führte zu erheblichen Verzögerungen. Lokale Gemeindearbeiter*innen konnten jedoch auch unter COVID-19-Bedingungen ihre Arbeit in den Projektgebieten weitestgehend fortführen, da ihr Einsatzort in etwa mit ihrem Wohnort übereinstimmte – ein strategischer Vorteil für alle Organisationen, die bereits umfassend mit Gemeindearbeiter*innen arbeiteten, egal ob INGO oder NNGO.

Doch nicht nur lokale Gemeindearbeiter*innen humanitärer Organisationen, auch unzählige weitere wichtige Akteur*innen werden in Lokalisierungsbestrebungen nicht genügend berücksichtigt. Neben den immer wieder genannten (lokalen) Regierungen, informellen Initiativen, Diaspora- und Geflüchtetenorganisationen sowie relevanten Wirtschaftsunternehmen sind dies vor allem die individuellen Unterstützungsnetzwerke der betroffenen Bevölkerung, zum Beispiel informelle Nachbarschafts- und Familienhilfen. Doch auch diese müssten mitgedacht werden, um einen möglichst konsolidierten positiven Effekt zu erzeugen. Denn wie ein HPG Bericht belegt, macht die professionelle humanitäre Hilfe allein (je nach Kontext) nur etwa drei bis 60 Prozent der gesamten Hilfe vor Ort aus.

Um all die an der Bewältigung einer humanitären Krise Beteiligten systematisch zu beteiligen, kann eine soziale Netzwerkperspektive hilfreich sein. Hierbei wird die Positionierung einzelner Akteure*innen im sozialen und politischen Beziehungsnetzwerk des jeweiligen humanitären Kontextes deutlich. So können nicht nur die Interessen und Kompetenzen verschiedenster Beteiligte, sondern auch die Art und Qualität ihrer Beziehungen untereinander und zu weiteren Unterstützungssystemen analysiert und berücksichtigt werden.

Für die Gemeinderarbeiter*innen in der COVID-19-Response wird zum Beispiel deutlich, dass diese in den ersten Wochen der COVID-19-Pandemie eine wichtige, krisenresistente Brückenfunktion zwischen ihren Organisationen und der lokalen Bevölkerung innehatten: Während ebenfalls gute Beziehungen anderer nationaler und internationaler humanitärer Helfer*innen zur lokalen Bevölkerung mit den entsprechenden Reisebeschränkungen wegfielen, konnten Gemeindearbeiter*innen ihre Position im humanitären Netzwerk behaupten. Diese wurde umso wichtiger, als lokale Märkte und andere Unterstützungssysteme für Menschen in Krisensituationen zumindest zeitweise ebenfalls wegfielen.

Es bleibt abzuwarten welche konkreten Fortschritte ein netzwerkperspektivisches Denken für die Lokalisierung bedeutet. Doch allein dieses Beispiel zeigt, welches Potential es bietet. Ein Netzwerkansatz bricht das Konglomerat internationaler und lokaler NGOs herunter auf kleinere Akteursgruppen, wie Gemeinderarbeiter*innen, und bewertet deren Kapazitäten im jeweiligen humanitären Kontext, unabhängig von der geographischen Verortung ihrer Organisationen. Dabei werden versteckte lokale Strukturen und Akteur*innen sichtbar, die beispielsweise durch den gleichzeitigen Einsatz agiler Managementstrukturen, besonders gefördert werden können.

Darina Pellowska is a research fellow at the Centre for Humanitarian Action (CHA). Her research interests include local leadership and participation, humanitarian access and diplomacy, and data and information management in humanitarian contexts.

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