CHA in der Süddeutschen Zeitung2021-09-15T09:21:01+02:00

CHA in der Süddeutschen Zeitung

In der Süddeutschen Zeitung stellt Thomas Kirchner klar, dass es nicht die Willkommenskultur war, die 2015 immer mehr Geflüchtete nach Deutschland brachte, sondern die blanke Not. Dazu sprach er auch mit CHA-Direktor Ralf Südhoff.

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Der Hunger trieb sie an

2015 soll sich nicht wiederholen, heißt es oft. Aber was lief damals eigentlich falsch? Mittlerweile ist klar: Es war nicht die Willkommenskultur, die immer mehr Geflüchtete nach Deutschland brachte.

Von Thomas Kirchner, München

Die starke Migration in Richtung Europa im Jahr 2015 war anscheinend für viele Menschen ein bedrohliches Schockerlebnis. Das wollen sie nicht noch einmal erleben. Da sich nun abermals große Gruppen von Flüchtlingen am Hindukusch auf den Weg machen, gehen vor allem Konservative wie Armin Laschet, Julia Klöckner und andere in Abwehrhaltung und sagen: “2015 darf sich nicht wiederholen.”

Es ist fraglich, ob diese Forderung höchste Priorität haben sollte im Moment. Das würden zumindest jene bestreiten, denen 2015 auch als Chiffre für eine humanitäre Leistung gilt, die aus ihrer Sicht erneut angebracht wäre. Nicht bestreiten lässt sich, dass 2015 auch für einen Kontrollverlust steht: Politiker, die überrannt wurden, überfordert waren. Eine Wiederholung vermeiden bedeutet: es diesmal besser machen, nicht denselben “Fehler” begehen.

Was lief “falsch” damals? Viele geflohene Syrer hielten sich 2014/15 in Nachbarländern auf, in Libanon, Jordanien oder der Türkei. Was brachte sie dazu, sich plötzlich massenhaft auf die Reise in die EU zu machen? Waren es vor allem politische Signale – die Willkommenskultur in Deutschland und anderen Ländern, Angela Merkels Weigerung, die Grenzen für Syrer zu schließen, ihr Versprechen, es sei zu “schaffen” -, die die Migranten motivierten, ihr Heil in Europa zu suchen? So wurde es bald in kritischer Absicht gedeutet, in Medien und Wissenschaft; als Sinnbild gilt das Selfie der Kanzlerin mit einem glücklichen Flüchtling.

Eine Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft hat diese These, die früh bezweifelt wurde, nun widerlegt. Sie basiert auf umfangreichen Befragungen von Flüchtlingen. Demnach gibt es keine wesentlichen “Pull-Effekte” bei der Migration. Zwischen den politischen Willkommenssignalen aus Mitteleuropa und dem starken Anstieg der Migration in Richtung Deutschland im Sommer und Herbst 2015 bestehe kein kausaler Zusammenhang. Die Migration habe schon früher zugenommen. Im Übrigen sei es übertrieben zu glauben, Migranten wüssten gut Bescheid über die politische Lage in möglichen Zielländern.

Weniger Spenden, weniger Hilfe

Woran lag es dann, was trieb die Menschen an? Es war die blanke Not. Die Flüchtlinge erhielten auf einmal sehr viel weniger Hilfe vom Nahrungsmittelprogramm der Vereinten Nationen (WFP), dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR oder der Internationalen Organisation für Migration, weil diese wiederum sehr viel weniger Geld von den Geberländern erhielten. 2014 und 2015 fehlte ein Drittel der Syrienhilfe, die nötig gewesen wäre, Beträge von jeweils weit mehr als einer Milliarde Dollar. Das Wissen um diesen Zusammenhang ist nicht neu, Berichte darüber erschienen schon im Herbst 2015 und nannten auch den Grund für den Rückgang bei den Zahlungen: Spendenmüdigkeit der Regierungen. Der Krieg in Syrien lief seit 2011, er war aus dem Fokus geraten, es gab andere Krisen. Die Hilfsprogramme basieren zum großen Teil auf Spenden, es gibt keine Zahlungspflicht, keine sichere Finanzierung.

Von 2013 an seien alle Hilfsoperationen in und um Syrien herum schlechter ausgestattet gewesen, bestätigt Ralf Südhoff, der damals das deutsche Regionalbüro des WFP leitete. Ende 2014 warnte das WFP, es müsse die Lebensmittelhilfe für 1,7 Millionen Syrer in den Nachbarländern einstellen. Die Barleistung des WFP, laut Südhoff die “Basis-Sozialhilfe” für die Flüchtlinge, fließt auf spezielle elektronische Karten, mit denen Essen, Hygienebedarf und notfalls auch Medikamente gekauft werden können. Eine Kampagne des WFP war kurzfristig erfolgreich, doch im Laufe des Jahres 2015 wurden die 27 bis 30 Dollar, die pro Kopf im Monat gezahlt worden waren, teilweise bis auf 13 Dollar reduziert. Vielen blieb nicht einmal mehr der eine Dollar pro Tag, der eine minimale Kalorienversorgung garantiert.

Zum Hunger sei die Perspektivlosigkeit gekommen, sagt Südhoff, der jetzt die Berliner Denkfabrik Centre for Humanitarian Action leitet. “Mehr als 90 Prozent der Syrien-Flüchtlinge wollten bewusst in der Region bleiben und möglichst bald zurück in ihre Heimat. Diese Hoffnung schwand mehr und mehr. Die Terrororganisation Islamischer Staat wurde zu jener Zeit auch stärker, es war klar, dass es keine akzeptable Lösung des Krieges geben würde. Gleichzeitig sank in den Nachbarländern die Toleranz gegenüber den Flüchtlingen.” In dieser Situation hätten viele Menschen entschieden, ihre letzten Ressourcen in die Flucht nach Europa zu investieren.

Genug ist es noch immer nicht

Die Staatenwelt schien die Lektion schnell zu kapieren. Auf einer Geberkonferenz Ende 2015 in London verkündete Kanzlerin Merkel, dass Deutschland 50 Prozent der Mittel übernehmen werde, die das WFP 2015 für die Region Syrien veranschlagt hatte, mehr als 500 Millionen Euro. “Eine große Entscheidung”, sagt Südhoff. Deutschland vervierfachte in der Folge sein humanitäres Engagement für Syrien. Es beschloss, seine Spende künftig schon im Frühjahr zu überweisen. Bis dahin war dies aus haushaltstechnischen Gründen erst in der zweiten Jahreshälfte und damit zu spät geschehen. Und es plant solche Zahlungen jetzt langfristiger, weil auch die Krisen länger dauern.

Eine Weile floss wieder deutlich mehr Geld in die Hilfe für Syrienflüchtlinge. Genug ist es nicht. Das UNHCR schätzt, dass die Flüchtlingshilfe im Durchschnitt nur etwa 45 Prozent der benötigten Mittel erhält. 2020 war der regionale Hilfsplan der Internationalen Organisation für Migration für Syrien und die Nachbarländer nur zu 37 Prozent finanziert. Das WFP warnte im Juni, es habe kein Geld mehr, die Nahrungsmittelhilfe für 21 000 Syrer in Jordanien zu bezahlen.

Was die afghanischen Flüchtlinge betrifft, war die Lage schon vor der gegenwärtigen Eskalation in ihrem Heimatland kritisch. Die wichtigsten Zielländer sind Pakistan, das 2020 laut offiziellen Zahlen 1,4 Millionen Afghanen beherbergte, und Iran (780 000). Südhoff schätzt, dass es doppelt so viele sind. Pakistan benötige im laufenden Jahr 330 Millionen Dollar für humanitäre Hilfe, sagt er, geflossen seien noch keine 60. In Iran sehe es ähnlich aus.

Das alles relativiert die vielen, fast flehenden Aufrufe europäischer Politiker, Geflüchtete nun unbedingt so nahe wie möglich an ihrem Herkunftsort unterzubringen und zu versorgen – mit dem Hintergedanken, dass sie auf diese Weise, anders als 2015, nicht nach Europa kommen. Südhoff spricht angesichts der strukturellen Unterfinanzierung der lokalen Hilfe gar von einer “Scheinlösung”. Zumal es nicht leicht werde, Abkommen mit den afghanischen Nachbarstaaten zu schließen, nach dem Vorbild des EU-Deals mit Ankara. “Pakistan und Iran sind noch mal zwiespältigere Partner als die Türkei, mit der es schon schwierig ist.” Diese Länder hätten zudem genug eigene Probleme.

Umso wichtiger ist es nach Ansicht von Experten und der EU-Kommission, möglichst viele bedürftige Flüchtlinge nun durch “Resettlement” direkt aus der Region nach Europa zu bringen, um ihnen die riskante Land- und Seereise zu ersparen. Kanada hat versprochen, auf diese Weise 50 000 Afghanen aufzunehmen, Großbritannien bietet 20 000 Plätze. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn brachte am Montag eine Zahl von 40 000 bis 50 000 Menschen ins Spiel, die auf die Staaten der Europäischen Union verteilt werden müssten. Dass sich die asylpolitisch zerstrittenen Europäer darauf einigen, gilt als unwahrscheinlich.