Gastbeitrag im Tagesspiegel vom 04.04.2019:
Vom Start-Up zum Global Player
Was auf dem Spiel steht, wenn das Auswärtige Amt heute seine neue Strategie für Humanitäre Hilfe präsentieren wird, lässt sich schnell ermessen:
Erstens war die humanitäre Hilfe noch nie von so existenzieller Bedeutung – nie zuvor waren über 132 Mio. Menschen weltweit in Not. Zweitens hat Deutschland seine Hilfe jüngst beeindruckend mehr als vervierfacht – das Schicksal von Millionen Menschen hängt heute also an guten oder schlechten Entscheidungen in Berlin. Dies gilt drittens umso mehr, als die anderen größten Geber entweder sich mit Brexit-Fragen beschäftigen oder vom Anti-Terror-Kampf bis zum Haushaltsstreit politische Ziele mit humanitären Prinzipien vermischen. Wenn der US-Präsident die Zuwanderung aus Mexiko zum ‚humanitären Notstand‘ erklärt, ist vieles gesagt über den Missbrauch humanitärer Werte und der Hilfe selbst für politische Zwecke – ob in Venezuela, Palästina oder in Syrien, wo Angriffe auf Hospitäler zum Kriegsmittel geworden sind.
Nie zuvor war die humanitäre Hilfe zugleich so wichtig und so gefährdet wie heute. Vor allem an Berlin richten sich deshalb große Hoffnungen: Deutschland ist heute zweitgrößter Geber weltweit und hat sich in drei Jahren vom Start-up zum geachteten Global Player entwickelt. Doch auch die Wachstumsstörungen sind unverkennbar.
Drei Beispiele: Erstens ist wenig transparent, warum Deutschland wem Hilfe gibt. Einerseits erklärt die Bundesregierung, Hilfe nur nach dem Maß der Not zu vergeben. Andererseits fließen über 60 Prozent der Mittel in den Nahen Osten, wo nur etwa 25 Prozent der Bedürftigen weltweit leben. Deutschland hat damit eine dramatisch unterfinanzierte Syrienhilfe wieder auf solide Füße gestellt. Aber für die drei am schlechtesten finanzierten Kriseneinsätze gab die Bundesregierung gleichzeitig null Euro.
Ob zweitens Deutschland humanitäre Prinzipien international verteidigen kann, hängt auch davon ab, ob es bereit ist für eine kohärente Außenpolitik einen innenpolitischen Preis zu zahlen: Stichwort Rüstungsexporte, etwa in den Jemen-Krieg; Stichwort Seenotrettung im Mittelmeer. Letztere haben EU und Bundesregierung gerade eingestellt, dabei ertrinkt heute auf der Mittelmeerpassage etwa jeder neunte Mensch – nie waren es mehr.
Eine der größten strategischen Herausforderungen ist heute drittens humanitäre Hilfe und Entwicklungshilfe zu verbinden. Ein altes Thema mit völlig neuer Brisanz: Die heutigen Großkrisen in Kriegsgebieten dauern im Schnitt neun Jahre. Nach acht Jahren Syrienkrise geht es aber nicht mehr um reine Nothilfe, sondern um Jobs und „Soziale Sicherungssysteme“ für Flüchtlinge und gastgebende Libanesen, Jordanier zugleich, also elementare Entwicklungsfragen. Diese „Nexus“-Debatte hat auch dank Deutschland Fahrt aufgenommen – und sieht sich doch mit den Niederungen des deutschen Politikbetriebs konfrontiert. Ein Bericht der Bundesregierung selbst beklagt den weiterhin mangelnden Austausch von Informationen, Planungen, Strategien zwischen den Ministerien.
Deutschland steht jetzt vor zwei Herausforderungen: Erstens muss das Auswärtige Amt heute klare strategische Schwerpunkte setzen, in welchen Fragen es humanitär etwas bewirken will. Denn der neue Global Player Auswärtiges Amt hat bis heute nur 66 Mitarbeiter für ein humanitäres Budget von rund 1,6 Milliarden Euro und alle humanitären Grundsatzfragen. Andere Geber beschäftigen allein in ihren Botschaften mehr humanitäre Experten als Deutschland insgesamt.
Zweitens müssen andere nachziehen, Beispiel Bundestag: Seit Jahren beschäftigt sich selbst der zuständige Ausschuss kaum mit humanitärer Hilfe. Auch für die deutschen Hilfsorganisationen belegen unsere Analysen: Es trennt sich die Spreu vom Weizen, international können nur wenige mithalten.
Für alle deutschen humanitären Akteure besteht also akuter Handlungsbedarf. Sonst handeln andere: Das Finanzministerium hat gerade angekündigt, das Budget des überstrapazierten Auswärtigen Amtes nicht etwa stärken, sondern drastisch kürzen zu wollen – bis 2021 um rund 15 Prozent.