Autor*in: | Carolin Funke und Dennis Dijkzeul |
Datum: | 21. September 2021 |
Lehren aus der Rohingya Flüchtlingskrise in Bangladesch
Menschen mit Behinderung machen ungefähr 15 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Jedoch legen aktuelle Daten nahe, dass diese Zahl in Ländern mit länger anhaltenden oder wiederkehrenden Krisen sehr viel höher ist. Eine Umfrage der Asia Foundation zeigt beispielweise, dass 80 Prozent aller erwachsenen Afghan*innen eine Behinderung haben. Auch in Syrien lebt mindestens jede vierte Person über 12 Jahren mit einer Behinderung.
Menschen mit Behinderung sind in solch komplexen und langanhaltenden humanitären Krisen einer vergleichsweise hohen Anzahl an Risikofaktoren, wie behinderungsbasierter Diskriminierung, Stigmata und unzureichend angepasster Hilfs- und Schutzmaßnahmen ausgesetzt. Diese verschärfen sich besonders dann, wenn sie von ihren Bezugspersonen oder pflegenden Familienmitgliedern getrennt werden, Medikamente verloren gehen oder diese in Krisensituationen unzugänglich sind, oder Evakuierungsmaßnahmen keine Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen enthalten.
Obwohl aus diesem Grund der Inklusion von Menschen mit Behinderung eine entscheidende Bedeutung für die humanitäre Hilfe zukommt, bleiben die Rechte und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung in der humanitären Hilfe weitestgehend unberücksichtigt. Auch wird die Handlungsfähigkeit von Menschen mit Behinderung für ihre Rechte und Bedürfnisse einzutreten nur selten bedacht und ihre eigenen Kapazitäten und Ressourcen in der Projektplanung zu wenig einbezogen.
Normative Veränderungen auf internationaler Ebene
Auf globaler Ebene zeichnet sich eine Anpassung der humanitären Hilfe ab, welche die Rechte und Bedarfe von diversen Gruppen, unter anderem auch der von Menschen mit Behinderungen, stärker in den Blick nimmt. Viele verschiedene Akteur*innen, darunter Geberstaaten, UN-Organe, und Nichtregierungsorganisationen, treten für einen gleichberechtigten Schutz und Sicherheit, Empowerment und eine wirksame Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ein. Seit dem Humanitären Weltgipfel und der Verabschiedung der Charter on Inclusion of Persons with Disabilities 2016 wurden zahlreiche politische Instrumente und Richtlinien entwickelt, die einen menschenrechtsbasierten Ansatz von Behinderung abbilden. Besonders hervorzuheben sind die Inter-Agency Standing Committee (IASC) Richtlinien zur Inklusion von Menschen mit Behinderung in der humanitären Hilfe (2019), welche in einem breit angelegten Konsultationsprozess gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen, Vertreter*innen von UN-, Entwicklungs- und humanitären Organisationen entwickelt wurden.
Darüber hinaus verlangen zentrale internationale Rahmenwerke und Dokumente wie das Sendai Rahmenwerk für Katastrophenvorsorge sowie der Globale Flüchtlingspakt und der Globale Migrationspakt von ihren Unterzeichnern ein besonderes Augenmerk auf die Rechte und spezifischen Anforderungen von Menschen mit Behinderungen zu legen. Mit der UN Sicherheitsratsresolution 2475, im Juni 2019 einstimmig angenommen, verabschiedete auch das mächtigste UN Gremium eine Resolution, die sich explizit mit der Lage von Menschen mit Behinderungen in bewaffneten Konflikten und humanitären Krisen beschäftigt.
Auch große Geldgeberorganisationen, wie die Generaldirektion Europäischer Katastrophenschutz und humanitäre Hilfe (GD ECHO) und die Vereinten Nationen, entwickelten Leitlinien bzw. eine Strategie basierend auf dem menschenrechtlichen Modell von Behinderung mit zum Teil expliziten Leistungsindikatoren zum Mainstreaming von Behinderung in der humanitären Hilfe.
Fehlende praktische Umsetzung
Unsere Forschung in Cox’s Bazar, Bangladesch zeigt jedoch, dass – obwohl immer mehr humanitäre Akteur*innen sich aktiv darum bemühen Barrieren und Risiken für Menschen mit Behinderungen abzubauen – die Umsetzung dieser Dokumente, Richtlinien und Anforderungen noch am Anfang steht. Um den Herausforderungen dieser Umsetzung zu begegnen, wenden sich viele humanitäre Akteur*innen an auf Menschen mit Behinderung und Inklusion spezialisierte Organisationen. Diese spezialisierten Organisationen unterstützen sowohl dabei sich Kenntnisse und Fähigkeiten zur Erhebung von disaggregierten Daten nach Alter, Behinderung und Geschlecht anzueignen wie auch dabei, Organisationsstrategien zu erstellen bzw. zu aktualisieren, und die Mitarbeitenden zu sensibilisieren und ihre fachlichen Kapazitäten auszubauen. Allerdings profitieren nicht alle Organisationen von dieser Unterstützung gleichermaßen. Bei den UN Organisationen zeigen sich beispielsweise in der Programmarbeit große Unterschiede. Organisationen, die finanzielle und personelle Unterstützung von ihrem Hauptsitz haben, wenden sich eher an auf Inklusion spezialisierte Organisationen, um ihr Personal auf allen Ebenen in inklusiver humanitärer Hilfe zu schulen. Außerdem profitieren sie zum Teil von ihren eigenen Inklusionsexpert*innen oder auf Inklusion spezialisierten Anlaufstellen. Trotzdem stimmten die Interviewpartner*innen darin überein, dass Veränderungsprozesse in allen Organisationen noch zu stark von den Bemühungen einiger weniger Personen abhingen und die Inklusion noch stärker institutionalisiert werden müsse, zum Beispiel durch die Erstellung und Umsetzung mehrjähriger Aktionspläne. Zum Zeitpunkt der Feldforschung im Januar und Februar 2020 hatte noch keine UN Organisation in Cox’s Bazar einen organisationsübergreifenden Plan entwickelt, und die Motivation einen solchen zu erstellen, hing weitestgehend von den Anforderungen der Geberstaaten ab. Ein Befragter erklärte:
Die Australier haben uns nun gebeten, einen operativen Aktionsplan für die Gleichstellung der Geschlechter und für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen zu entwickeln. Das ist sehr gut für uns, denn jetzt haben wir den Anstoß, [einen] Plan zu [entwerfen] und alle zu beteiligen.
Bei den Nichtregierungsorganistionen zeigt sich besonders die Zusammenarbeit in Konsortien mit auf Inklusion spezialisierten Organisationen als ein nützliches Instrument, die Kapazitäten der Partnerorganisationen in der inklusiven Programmarbeit systematisch zu verbessern. Doch kurze Finanzierungszeiträume, häufige Personalwechsel und strenge Genehmigungsverfahren durch betreffende Regierungsbehörden konsumieren viel Zeit und Ressourcen, die zum Kapazitätsaufbau und zur gleichberechtigten und wirksamen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen nötig wären. Zweifelsfrei ist und bleibt die Inklusion von Menschen mit Behinderungen eine langfristige Aufgabe.
Lehren aus dem Vorgehen der humanitären Hilfe für die Rohingya-Flüchtlinge
Geldgeber*innen sollten sich darüber bewusst sein, dass sowohl organisatorische Veränderungsprozesse, als auch der Aufbau der nötigen Kapazitäten im Bereich Inklusion zeit- und ressourcenintensiv ist und langfristige Planbarkeit verlangen. Die Umsetzung inklusiver humanitärer Maßnahmen ist insbesondere für Organisationen mit wenig Erfahrung sehr anspruchsvoll. Mit der Teilnahme und Durchführung von Schulungen, der Organisation von Inklusions-Audits, der Sammlung, Analyse und Verwendung disaggregierter Daten, der barrierefreien Gestaltung von Einrichtungen, der Materialbeschaffung, der Verhandlungen mit Behörden und der Supervision der Umsetzung inklusiver Projekte sind nur einige der neuen Herausforderungen genannt. Vor diesem Hintergrund ist es entscheidend, dass Geldgeber*innen die nachhaltige und verlässliche Finanzierung von Projekten gewährleisten. Mit der Sicherheit von finanzieller Stabilität können sich Organisationen auf den Kapazitätsaufbau konzentrieren und wichtige Investitionen tätigen, die für ein barrierefreies Umfeld notwendig sind.
Allerdings ist angesichts der COVID-19 Pandemie davon auszugehen, dass die bereitgestellten Mittel für inklusive humanitäre Hilfe kurzfristig reduziert werden. Im April 2021 bestätigte die Regierung des Vereinigten Königreichs, ein großer Befürworter und starker Verfechter inklusiver humanitärer Hilfe, drastische Etatkürzungen.
Angesichts zahlreicher chronischer Flüchtlingssituationen und humanitärer Krisen weltweit sollten sich humanitäre Akteur*innen aber weiterhin um eine maßgebliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in Krisen und Konflikten einsetzen. Es ist darum wichtig, den programmatischen und organisatorischen Veränderungsprozess hin zu einer voll- und eigenständigen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen auf allen Entscheidungsebenen anzustreben, gleichberechtigten Schutz und Sicherheit zu gewährleisten und Barrieren systematisch abzubauen, sowohl in der Programm- und Projektarbeit, als auch im allgemeinen organisatorischen Aufbau.
Die Forschung in Cox’s Bazar verdeutlicht, dass Partnerschaften mit auf Menschen mit Behinderung und Inklusion spezialisierte Organisationen eine große Chance bieten, Veränderungsprozesse innerhalb der Organisationen zu unterstützen. Sie tragen effektiv zur Bewusstseinsbildung und zum Aufbau von Kapazitäten bei. Doch bedarf es außerdem technische und finanzielle Unterstützung des Hauptsitzes, um sicherzustellen, dass alle Mitarbeiter von dem Kapazitätsaufbau profitieren und Veränderungen nicht nur auf programmatischer Ebene, sondern auch innerhalb der Organisationsstrukturen sichergestellt werden.
Um möglichen Etatkürzungen und mangelnder interner Unterstützung entgegenzutreten, ist es außerdem entscheidend, dass die Inklusion von Menschen mit Behinderungen nicht nur von einzelnen Organisationen, sondern auch auf Koordinierungsebene gefördert wird. In Cox’s Bazar arbeitet die „Age and Disability Working Group“ unter anderem eng mit dem Protection Cluster und der Organisation REACH, um Datenlücken in Bezug auf Menschen mit Behinderung zu schließen und Inklusion im gesamten Clustersystem zu verankern. Im April 2020 erschien beispielsweise ein Leitfaden zur Umsetzung inklusiver humanitärer Hilfe während der COVID-19 Pandemie.
Inklusion, und somit die Achtung der Würde, Nichtdiskriminierung und die Zugänglichkeit von humanitären Leistungen darf keine bloße Ergänzung in der Projekt- und Programmarbeit sein. Alle Organisationen müssen die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, ihr Empowerment, sowie ihren Schutz und ihre Sicherheit als strategisches Thema in ihr Tagesgeschäft integrieren, damit sie besser auf neue Krisen vorbereitet sind und wirklich alle schutzbedürftigen Menschen mit ihrer Arbeit erreichen.
Carolin Funke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) an der Ruhr-Universität Bochum.
Dennis Dijkzeul ist Professor für Konflikt- und Organisationsforschung am IFHV und der Fakultät für Sozialwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum.
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29.09.2021 12:30 - 14:00