Humanitäre Hilfe in der Ampelkoalition

Autor*in: Katrin Radtke und Janna Leipold
Datum: 26. November 2021

Es gibt Anlass für vorsichtigen Optimismus. Am 24. November hat die Ampelkoalition ihren Koalitionsvertrag vorgelegt. Das insgesamt knapp 180 Seiten umfassende Dokument enthält auch einige Zeilen zur humanitären Hilfe. Viele zentrale Forderungen, die unter anderem das CHA und zahlreiche Hilfsorganisationen in den vergangenen Jahren gestellt haben, wurden berücksichtigt. Auch in Sachen Politikkohärenz ist der Koalitionsvertrag positiv zu bewerten. Es gibt jedoch auch gravierende Auslassungen und Leerstellen. Was heißt das im Detail?

Finanzierung

Im Jahr 2020 hat Deutschland rund 3,7 Milliarden US Dollar für die humanitäre Hilfe ausgegeben. Seit einigen Jahren ist die deutsche Bundesregierung der zweitgrößte humanitäre Geber weltweit. Nur die Vereinigten Staaten von Amerika haben in absoluten Zahlen mehr Geld für die Unterstützung notleidender Menschen jenseits der nationalstaatlichen Grenzen bereitgestellt. Für diesen Aufwuchs der Mittel gibt es gute Gründe, denn nie gab es einen höheren humanitären Bedarf: Zahlreiche langjährige Kriege und Konflikte und zunehmend auch klimabedingte Extremwetterereignisse bedrohen das Leben von mehr als 273 Millionen Menschen. Eine Fortführung dieser Politik in der Ampelkoalition kann nun als gesichert gelten. Im Koalitionsvertrag bekennen sich die Koalitionsparteien klar zu einer bedarfsgerechten Verstetigung und Erhöhung der Mittel für humanitäre Hilfe. Auch die Einhaltung der ODA-Quote und die Aufwendung von 0,2 Prozent des BNE für LDCs werden zugesichert. Damit konnten SPD und Grüne die Positionen ihrer Parteiprogramme durchsetzen. Die FDP hatte sich zuvor nicht zu Budgetfragen in der humanitären Hilfe geäußert, jedoch hinsichtlich der eingesetzten Mittel auf „Qualität statt Quantität“ gesetzt und sich damit im Parteiprogramm noch ein Hintertürchen offengehalten.

Rahmenbedingungen und Grundsätze

Doch nicht nur der gewachsene humanitäre Bedarf stellt die humanitäre Hilfe vor große Herausforderungen. Der humanitäre Raum, in dem Hilfsorganisationen sicher agieren können, schrumpft seit Jahren. Selten sind die humanitären Prinzipien (Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit) so missachtet und unterminiert worden wie heute. Immer wieder wird humanitäre Hilfe auch als machtpolitisches Instrument missbraucht. Vor diesem Hintergrund haben Hilfsorganisationen seit langem eine prinzipienorientierte Politik gefordert.  Die Bilanz der Bundesregierung ist in diesem Punkt bisher gemischt. Grundsätzlich gilt sie in der humanitären Hilfe international als vergleichsweise prinzipienorientiert und frei von politischen Agenden. Das CHA kam in seinem Bericht zur deutschen humanitären Hilfe zu der Einschätzung, dass eine „Verknüpfung von humanitärer Hilfe mit politischen Bedingungen nicht strukturell festzustellen“ sei. Erstaunlicherweise fehlt nun aber im Koalitionsvertrag das klare Bekenntnis zu den humanitären Prinzipien, zu denen sich die scheidende Regierung klar bekannt hatte und die die Grünen in ihrem aktuellen Parteiprogramm explizit erwähnen. Immerhin halten die Koalitionsparteien aber fest, dass sie sich für einen „verbesserten Zugang für humanitäre Hilfe in Konfliktregionen und für einen verbesserten Schutz der Helferinnen und Helfer“ einsetzen wollen.   

Sehr positiv zu bewerten ist, dass sich die Parteien auch zu dem aus dem humanitären Weltgipfel resultierenden „Grand Bargain“ bekennen, der in keinem der Parteiprogramme zuvor erwähnt wurde. Konkret verpflichtet sich die Koalition dazu, jeden dritten Euro in der humanitären Hilfe als flexible Mittel auszuzahlen und die Lokalisierung (der humanitären Hilfe) weiter auszubauen“. Die Koalitionäre erfüllen damit eine zentrale Forderung vieler Hilfswerke, die auf diese Weise im Krisenfall schneller reagieren und Katastrophen besser vorbeugen können. Lange galt Deutschland in punkto Flexibilität als eines der Schlusslichter unter den Gebern. Das kann sich nun ändern. Konsequent verfolgt, hätte das Thema Lokalisierung das Potenzial, das gesamte humanitäre System vom Kopf auf die Füße zu stellen. Dass konkrete Ziele auf diesem Weg explizit in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurden, lässt hoffen, dass Deutschland als einer der größten Geber weltweit zu diesem Thema zukünftig international genauso eine Vorreiterrolle übernehmen könnte wie im Bereich der vorausschauenden humanitären Hilfe.

Schwerpunkte

In engem Zusammenhang mit der Bedeutung, die der Koalitionsvertrag den humanitären Prinzipien zumisst, steht die Frage der Schwerpunktsetzung der deutschen humanitären Hilfe. Hier ist die wichtigste Forderung von Hilfsorganisationen, dass Hilfe bedarfsorientiert geleistet werden und nicht durch politische Interessen geleitet sein sollte. Bisher hatte das deutsche Engagement deutliche regionale Schwerpunkte gesetzt und insbesondere für Syrien, bedingt durch die hohe Zahl von Geflüchteten, einen überproportional großen Anteil der Mittel bereitgestellt. Diesen Schwerpunkt bekräftigt nun auch die Ampelkoalition im Koalitionsvertrag. Grundsätzlich könnte eine solch starke Schwerpunktsetzung durchaus in Konflikt mit den humanitären Prinzipien geraten. Doch betrachtet man das deutsche Engagement im internationalen Kontext, so wird deutlich, dass der humanitäre Bedarf in Syrien trotz des großen deutschen Beitrags bei weitem nicht gedeckt wird. Mit 4,2 Milliarden US Dollar ist der syrische „Humanitarian Response Plan“ der größte auf der Welt. Er ist jedoch nur zu 27 Prozent finanziert. Ein hohes deutsches Engagement ergibt also im Sinne des Bedarfs durchaus weiterhin Sinn. Gleichzeitig sind allerdings humanitäre Krisen im Südsudan und im Jemen deutlich stärker unterfinanziert. In absoluten Zahlen gilt das auch für Venezuela. Jenseits des Schwerpunkts auf die Syrienkrise geht der Koalitionsvertrag nicht konkret auf andere Länder ein. Sehr positiv ist aber hervorzuheben, dass explizit „vergessene Krisen“ im Zusammenhang mit der Erhöhung der Mittel für die humanitäre Hilfe erwähnt werden. Damit wird eine weitere wichtige Forderung von Hilfsorganisationen erfüllt und das Engagement der Vorgängerregierung in diesem Bereich fortgesetzt.

Politikkohärenz und Nexus

Obwohl der Aufwuchs der Mittel für die humanitäre Hilfe angesichts des steigenden humanitären Bedarfs von vielen humanitären Organisationen begrüßt oder sogar eingefordert wird, gibt es auch kritische Stimmen zur wachsenden Bedeutung der humanitären Hilfe. Denn dass humanitäre Hilfe einen immer größeren Stellenwert einnimmt, ist Konsequenz politischen Versagens. Die Hauptursachen für die Verschlechterung der humanitären Lage –Ungleichheit, Gewaltkonflikte und der Klimawandel – sind nicht unausweichlich, sondern Ergebnis politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen. Cornelia Füllkrug-Weitzel beklagte in einem Artikel der Welternährung unlängst eine Abkehr von der „Entwicklungshilfe“ und der Ursachenbekämpfung hin zu einer auf verbesserte Abläufe und Strukturen ausgerichteten humanitären Hilfe. Anstatt geopolitische Interessen und Waffenexporte zu thematisieren, werde über den „Triple-Nexus“ von humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedenssicherung gesprochen. Anstatt über ein nachhaltiges globales Ernährungssystem zu diskutieren, werde über die Vorteile von Cash-Assistance gegenüber Nahrungsmittelhilfen gesprochen. Anstatt das Ende einer kohlenstoffbasierten Wirtschaftsweise konsequent einzuleiten, werde vor allem in Klimaanpassung und Resilienz investiert und anstatt über eine „Reform und Stärkung des Multilateralismus, von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht“ zu sprechen, werde die humanitäre Hilfe in die Hände von Marktakteuren gelegt und im Sinne des neoliberalen Privatisierungscredos teilprivatisiert. Auch das CHA kritisierte die Bundesregierung dafür, dass verwandte außenpolitischen Fragen wie der Rücktransport von geretteten Schiffbrüchigen nach Libyen zu desaströsen humanitären Lagen führten, die mit den humanitären Prinzipien unvereinbar seien. Zumindest in einigen dieser genannten Bereiche zeichnet sich nun unter der Ampelkoalition eine höhere Politikkohärenz ab und der klare Wille die Ursachen humanitärer Krisen anzugehen.

Besonders im Fokus stand während der gesamten Verhandlungen das Thema Klimaschutz. Hier konnten nun entgegen aller Befürchtungen doch einige ambitionierte Ziele insbesondere im Bereich des Ausbaus erneuerbarer Energien festgelegt werden, die einen Kohleausstieg noch im Jahr 2030 ermöglichen könnten. Allerdings kann das nur gelingen, wenn sehr schnell die richtigen Instrumente entwickelt werden. Viele Umweltverbände (mit Ausnahme von Fridays for Future) bewerten die Vorhaben  ausgenommen der Verkehrspolitik jedoch grundsätzlich als positiv. Deutschland könnte konsequent ausgeführt mit den im Koalitionsvertrag festgelegten Zielen die im Pariser Klimaabkommen eingegangenen Verpflichtungen einhalten. In diesem Zusammenhang sollen auch Mittel zur Klimafinanzierung entsprechend der Forderung der Grünen wachsen, allerdings findet sich im Koalitionsvertrag keine konkrete Summe mehr. Es heißt hier: „Wir werden unsere Zusagen für den deutschen Anteil an den 100 Milliarden US-Dollar der internationalen Klimafinanzierung im Rahmen einer kohärenten Klimaaußenpolitik erfüllen und perspektivisch erhöhen“.

Ein weiteres wichtiges Thema im Sinne der Politikkohärenz ist die Konfliktprävention. Laut Koalitionsvertrag wird es im Bereich der Rüstungspolitik zu stärkeren Restriktionen als bisher kommen. Die Koalitionsparteien sprechen sich deutlich für eine abrüstungspolitische Offensive aus und bekräftigen ihren Einsatz für eine EU-Rüstungsexportverordnung sowie ein nationales Rüstungsexportgesetz. Außerdem sollen keine Genehmigungen für Waffenexporte erteilt werden, wenn der Empfängerstaat nachweislich unmittelbar am Jemen-Krieg beteiligt ist. Dieser Satz lässt sich allerdings bereits im Koalitionsvertrag der GroKo von 2018 finden, trotzdem waren 2019 mit Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten zwei der neun größten Waffenempfänger im Jemen-Krieg beteiligt. Andere Krisenregionen werden nicht benannt. Darüber hinaus sieht der Koalitionsvertrag eine Stärkung von Krisenprävention und zivilem Krisenmanagement vor und die Vertragspartner verpflichten sich dazu, die „Ausgaben für Krisenprävention weiterhin im Maßstab eins-zu-eins wie die Ausgaben für Verteidigung steigen“ zu lassen. Zusätzlich werden im Koalitionsvertrag die Ziele des Humanitarian Development Peace Nexus als verpflichtend herausgehoben.

Auch zur Frage von Flucht versucht die Koalition einen „Paradigmenwechsel“ einzuleiten, der von vielen Geflüchtetenorganisationen als zumindest teilweise positiv bewertet wird. Grundsätzlich soll „irreguläre Migration“ durch die Schaffung von sicheren Fluchtwegen reduziert werden. Dafür sollen Asylverfahren beschleunigt werden,  unabhängige Beratungsinstanzen geschaffen werden, keine zusätzlichen sicheren Drittstaaten benannt werden, humanitäre Visa mit digitalem Vergabeverfahren eingeführt werden und die illegalen Zurückweisungen an den EU-Außengrenzen, die so genannten „push backs“ beendet werden. Außerdem will die Koalition das EU-Asylsystem reformieren. Falls dies scheitert will sie mit einer Koalition der aufnahmebereiten Mitgliedsstaaten „aktiv dazu beitragen, dass andere EU-Staaten mehr Verantwortung übernehmen und EU-Recht einhalten“. Konkrete Ansätze  wie den aktuellen Rechtsbrüchen in Polen, Griechenland, Kroatien und im Mittelmeer entgegengewirkt werden soll, fehlen allerdings. Auch wird nicht deutlich wie der „Koalition der Willigen“ zum Erfolg verholfen werden kann, denn sie konnte auch in den vergangenen Jahren kaum Ergebnisse vorweisen. In Bezug auf die Seenotrettung verurteilen die Koalitionäre die Behinderung der zivilen Seenotrettung und setzen sich für eine „staatlich koordinierte und europäisch getragene Seenotrettung“ ein. Diese soll durch die EU-Agentur Frontex übernommen werden, eine Tatsache, die von vielen Seenotrettungsorganisationen als kritisch gesehen werden dürfte, weil Frontex aufgrund von gravierenden Menschenrechtsverletzungen und „kriminellen Machenschaften“ heftig in die Kritik geratenen ist und sich die Vermischung von Außengrenzschutz und Seenotrettung als hoch problematisch erwiesen hat.

Fazit

In der Gesamtbetrachtung lässt sich festhalten, dass die Ampelkoalition – soweit man aus den kurzen relevanten Passagen des Koalitionsvertrags herauslesen kann – mit Blick auf die humanitäre Hilfe die richtigen Weichen gestellt hat. Sieht man von dem mangelnden Bekenntnis zu den humanitären Prinzipien ab, das gerade angesichts des immer weiter abnehmenden humanitären Raums größte Bedeutung hat und in keinem Dokument zur humanitären Hilfe fehlen darf, wurden viele Forderungen der Zivilgesellschaft erfüllt.  Mit Blick auf die Politikkohärenz gibt es ebenfalls Anlass für vorsichtigen Optimismus. Der Koalitionsvertrag nimmt stärker als bisherige – wichtige Ursachen humanitärer Krisen in den Fokus und setzt sich in vielen Bereichen die richtigen Ziele. Inwieweit die Versprechungen in die Tat umgesetzt werden und die richtigen Instrumente gewählt wurden und werden, um die gesetzten Ziele zu erreichen, bleibt allerdings abzuwarten und muss von zivilgesellschaftlichen Organisationen eng begleitet werden. Naturgemäß sind noch viele Detailfragen unbeantwortet.

Katrin Radtke is senior researcher and lecturer at the Institute for Law of Peace and Armed Conflict (IFHV) at the Ruhr-University Bochum (RUB) and scientific director of the academy for humanitarian action (aha).

Janna Leipold is a Student Assistant at the IFHV. She is currently a student at the Ruhr-Universität Bochum, studying Geography and Politics, Economy and Society (PWG).

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Relevante Beiträge